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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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schwindelte er:
    »Auf den ersten Blick, nein … Ich erinnere mich dunkel an einen Camus, aber das ist schon lange her …«
    Bernas Stimme dröhnte durch den Hörer.
    »Wenn du meinst … Ich seh’ mal in meinen Heften nach … Wenn ich was finde, rufe ich zurück.«
    Warum hatte er, als er das sagte, einen so boshaften Blick? Als er auflegte, schien er quietschfidel und bewegte seinen Rollstuhl, den er nach all den Jahren mit verblüffendem Geschick zu steuern wußte, an den beiden großen Gummirädern vor die Kommode, in der die schwarzen Wachstuchhefte lagen.
    »Heißt so der Mann, der auf dem Pont Sully ermordet worden ist?« fragte sie mit der unschuldigsten Miene der Welt.
    »Sie haben ihn identifiziert. Gehörte nicht viel dazu.«
    »Mir kommt’s so vor, als hätte sich auch der Besucher heute morgen so vorgestellt.«
    Er drehte den Kopf, um sie anzusehen, und lobte:
    »Hast ein gutes Gedächtnis.«
    »Ist er’s?«
    »Selbst wenn er es ist, braucht Berna das nicht zu wissen, vor allem nicht sofort.«
    Sie wagte sich vor, wurde deutlicher:
    »Warum?«
    Nicht Boshaftigkeit, sondern kalte Härte glomm da in den Augen des Alten auf. Zum ersten Mal wirkte er fast, als wolle er sie zurechtweisen, auch wenn er sehr liebevoll sagte:
    »Im allgemeinen befassen sich kleine Mädchen nicht mit solchen Sachen und interessieren sich mehr fürs Feuilleton, wenn sie schon Zeitung lesen.«
    Sie bohrte nicht weiter. Fast eine halbe Stunde lang blätterte er die Hefte durch, in denen alle Kriminalfälle der letzten vierzig Jahre verzeichnet waren. Dann manövrierte er wieder mit seinem Rollstuhl und wählte eine Nummer.
    »Geben Sie mir den Chef. Hier Duclos … Hallo! Bist du’s, Émile? Im Strafregister hast du wohl nicht gefunden, was du suchst?« Er hatte eins der Hefte in der Hand und horchte auf die Stimme und die Gesprächspausen des anderen.
    »Verstehe. Die kleinen intimen Details, ja. Na gut, da hast du sie. Ist nicht viel. Den hab’ ich nämlich verhaftet, vor zwanzig Jahren, zusammen mit Inspektor Torrence. Ein Arzt in der Rue Caulaincourt. Er war jung und arm wie ’ne Kirchenmaus. Unter den Patientinnen eine fünfzehn Jahre ältere Frau, sehr vermögend. Findest du alles in der Urteilsbegründung. Ich glaube, anfangs hat sie ihn mit Aufmerksamkeiten verfolgt, war so ihre Art. Hat ihm üppige Geschenke gemacht. Er hat angefangen zu spielen. Hat steif und fest behauptet, daß er sie nicht vorsätzlich getötet hat, daß sie Morphium wollte und er ihr aus Versehen ich weiß nicht mehr welches Gift gespritzt hat. In seiner Panik hat er die Leiche mit Schwefelsäure auflösen wollen, daheim in der Badewanne.«
    Das war so drastisch, daß Lili erblaßte; ihre Nähnadel zitterte.
    »Vorsätzlichen Mord hat man ihm nicht nachweisen können. Er ist mit zwanzig Jahren Strafkolonie davongekommen. Vor dem Prozeß habe ich ihn häufig in der Untersuchungshaft besucht. Wie? … Auf die Frage sage ich lieber nichts, denn ich bin nicht Gottvater … Jedenfalls hat er gebüßt, oder nicht?«
    Ob Berna witterte, daß was im Busch war? Hatte er einen Verdacht, daß Camus nach seiner Rückkehr nach Frankreich wieder Kontakt zu Kommissar Duclos aufgenommen hatte? Er bohrte weiter. Duclos gab nur ausweichende Antworten.
    Als er aufgelegt hatte, schlug Lili hastig vor:
    »Ich könnte die neuesten Zeitungen holen. Da müssen neue Einzelheiten drinstehen.«
    »Überflüssig. Weiß ich alles.«
    Sonst passierte nichts. Es war schwül. Eine Dunstglocke legte sich über Paris, durch die man sehen konnte, wie sich die vergrößerte Sonnenscheibe allmählich von Gelb nach Rot verfärbte.
    Duclos war anders als sonst. Ein paarmal streckte er die Hand nach dem Telefon aus und überlegte es sich dann anders. Plötzlich, als sie schon nicht mehr daran dachte, sagte er zu ihr:
    »Du hast recht. Geh und hol die Zeitungen.«
    Sie war so sicher, daß er sie nur los sein wollte, daß sie sich einprägte, wie das Telefon stand. Sie blieb nur ein paar Minuten fort. Camus’ Foto prangte jetzt auf der Titelseite, mit vollem Namen und einem kurzen Bericht über seinen Prozeß von damals.
    Als sie wieder hereinkam, außer Atem, stand das Telefon ein wenig anders, genau wie sie sich gedacht hatte.
    »Was hast du mit den Morgenzeitungen gemacht, Kleines?«
    »Weiß nicht. Ich muß sie irgendwo hingeräumt haben.«
    Sie tat so, als müsse sie suchen und wußte doch, daß sie auch hier wieder danebenlag, denn er war viel schlauer als sie und ließ sich
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