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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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Verhandlung beschuldigt, die Tat auf den großen Unbekannten schieben zu wollen.
    Sie hatten ein paar Wochen später dafür gebüßt, es war einer von den Fällen gewesen, wo Duclos auf Bitten der Verurteilten der Hinrichtung beigewohnt hatte.
    Lilis Mutter hingegen, die man flüchtig glaubte – sie hatte ihr wenige Monate altes Kind in einem Hotelzimmer an der Bastille im Stich gelassen –, war zwei Wochen später flußabwärts an einer Schleuse aus der Seine gezogen worden. Hatte sie Selbstmord begangen? Oder hatte sie zuviel gewußt und war von dem geheimnisvollen René ein für allemal stumm gemacht worden?
    »Was hast du, Liebes?«
    »Ich?« rief sie, aus ihrem Alptraum gerissen und mit verstörtem Blick.
    »Woran denkst du gerade?«
    »Weiß nicht.«
    »Komisch, daß die Koteletts nicht richtig durch sind.«
    »Nicht richtig durch?«
    »Und noch komischer, daß du’s nicht gemerkt hast.«
    »Entschuldige. Ich hab’s nicht mit Absicht gemacht.«
    Das war lächerlich. Die Antwort eines ertappten kleinen Mädchens. Sie fühlte sich wirklich ertappt. Sie hatte große Lust, ihm alles zu sagen. Aber würde er dann nicht versuchen, sie an dem zu hindern, was sie tun wollte?
    Sie wartete ungeduldig, bis er wie jeden Nachmittag in seinem Rollstuhl eingenickt sein würde. Die schwere Kommodenschublade mit den Dutzenden schwarzer Wachstuchhefte, in denen Duclos im Laufe seiner Karriere Notizen über alle seine Fälle gemacht hatte, lockte sie.
    Er hatte ihr nie verboten, darin zu stöbern. Häufig blätterte sie vor seinen Augen die Hefte durch und stellte aus purer Neugier Fragen.
    »Was war denn das, der Fall Bonfils?«
    Er erzählte ihr davon, wie man Märchen erzählt.
    »Ich bring’ dir gleich deinen Kaffee.«
    Es tat ihr gut, in die Küche ausweichen zu können und mal kurz nicht in seinem Gesicht lesen zu müssen. Nachdem sie ihm den Kaffee auf ein Tablett gestellt hatte, sammelte sie die Zeitungen ein und schichtete sie mechanisch aufeinander. Dabei fiel ihr Blick zufällig auf Worte, die mit Bleistift auf einen Zeitungsrand gekritzelt waren. Sie tat, als habe sie nichts gesehen, legte die Zeitung aber wohlweislich dorthin, wo sie an sie herankonnte, wenn ihr Vater sein Nickerchen hielt.
    »Ein Pfeifchen?«
    »Nein danke. Du kannst die Läden halb zumachen. Es wird allmählich wirklich heiß.«
    Er trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee, faltete die Hände über dem Bauch und schloß die Augen. Sie wußte nie, ob er nachmittags wirklich schlief. Er bestritt es und behauptete, er döse nur vor sich hin, aber sie hatte ihn schon hochschrecken sehen, wenn es an der Tür klingelte.
    Nachdem der Tisch abgeräumt war, trug sie die Zeitungen in ihr Zimmer. Ihr Vater hatte folgendes notiert: › Gaston – Copains – Roquette‹ .
    Roquette stand bestimmt für die Rue de la Roquette. Aber ›Copains‹?
    Sie dachte kurz nach und schlich dann auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer zurück, um sich das Telefonbuch zu holen. Duclos rührte sich nicht.
    Sie suchte zunächst ohne Erfolg in der Rubrik Cafés, dann unter Restaurants, Brasserien, schließlich unter Bars und war ziemlich stolz, als sie fündig wurde: › Bar des Copains – Rue de la Roquette 33 b‹ .
    Als sie kurz nach zwei runterging, um die Nachmittagszeitung zu holen, schrie diese in fetten Schlagzeilen hinaus: › Unbekannter um 12 auf dem Pont Sully erschossen. ‹
    Die Meldung war kurz. Sie fing so an: › Kurz vor Redaktionsschluß wurde gemeldet …‹ Und enthielt unter anderem folgenden Satz: › Das Opfer hatte keinerlei Ausweis, keinerlei Papiere dabei, wird jedoch hoffentlich rasch anhand der Tätowierungen identifiziert werden, die über Arme und Brust verteilt sind. Manche davon lassen darauf schließen, daß es sich um einen alten Bekannten der Justiz handelt. ‹
2
    Nicht zum ersten Mal gab sie einem unvernünftigen Impuls nach. Schon beim Betreten der Telefonzelle hatte sie das mulmige Gefühl, eine Dummheit zu machen. Sie befand sich in einer ruhigen kleinen Bar im Viertel. Der gemütliche Wirt, der aus dem Burgund stammte und stets die Hemdsärmel hochgekrempelt hatte, kannte sie gut, weil sie schon als kleines Mädchen beim Bäcker nebenan mit dem ganzen Ernst einer Hausfrau ihre Baguettes geholt hatte.
    Sie hatte die Telefonmünze noch in der Hand, und die Panik, die plötzliche Gewißheit drohender Gefahr wurden so stark, daß sie sich umwandte und schon wieder hinauswollte. Da begegnete sie dem Blick des Wirts, der hinter dem Tresen
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