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Das große Buch der Lebenskunst

Titel: Das große Buch der Lebenskunst
Autoren: Anselm Grün
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die sehr langsam reifen. Das Korn braucht neun Monate, um heranzureifen. Der Mensch ist nur neun
     Monate im Mutterschoß, aber er braucht sein ganzes Leben lang, um reif zu werden. Ganz reif wird die Frucht des Menschen erst durch seinen Tod.
    Das deutsche Wort »Geduld« kommt von »dulden = tragen, ertragen, auf sich nehmen«. Mit dulden verbinden wir, dass jemand etwas Schweres auf sich nimmt,
     dass er Leid trägt. Geduld bedeutet jedoch heute eher: »Langmut, Ausharren, Warten«. Die Italiener rufen einem Ungeduldigen zu: »Patientia«. Dieses Wort
     hängt zusammen mit dem Italienischen »pati = leiden«. Offensichtlich spiegeln die deutsche und italienische Sprache die Erfahrung wider, dass der, der
     warten muss, etwas Schweres auf sich nimmt. Was ist das Schwere, das der Geduldige trägt? Es ist kein Leid. Es ist nur die Zeit. Es ist die Zeit, in der
     er nichts tun kann als warten. Und das ist offensichtlich für viele Menschen das Allerschwerste. Sie meinen, jeden Augenblick im Griff zu haben, alles
     selber machen zu können. Geduldig sein heißt, einfach da sein, warten, bis etwas reif ist. Nur wer das Nichtstunkönnen, das Nichtssehen, das
     Ausgeliefertsein an die Prozesse des Wachsens und Reifens aushält, wird ernten können, was reif ist. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass er
     alles selber machen will. Im Warten trägt er schwer an seiner Ohnmacht, dass das Wachsen und Reifen nicht ihm gehorcht, sondern einem anderen, dem inneren
     Prozess oder Gott, der das Wachsen und Reifen bewirkt.
Im Rhythmus leben
    W er die Nacht nicht ehrt, ist des Tages nicht wert.« Dieses italienische Sprichwort enthält eine tiefe
     Weisheit: Die frühen Mönche haben die Nacht immer heilig gehalten. Die Nacht ist der Raum des Schweigens, in dem Gott zu mir sprechen möchte. Gott spricht
     zu mir im Traum und zeigt mir, wie es um mich steht oder welche Schritte mich zum Leben führen. Gott spricht zu mir, wenn ich nachts aufwache und nicht
     mehr schlafen kann. Im Schlaf tauchen wir nach einer jüdischen Tradition in die eigentliche Wirklichkeit ein. Wir werden angeschlossen an das göttliche
     Leben. Das nächtliche Schweigen gibt dem Schlaf und dem Traum einen helfenden und heiligen Raum. Die Stille der Nacht täte uns daher allen gut.
    Für viele Menschen wird die Nacht heute zum Tag. Sie sitzen halbe Nächte vor dem Fernseher. Andere sind Nachtarbeiter. Sie kommen nicht ins Bett, weil
     sie dies oder jenes noch erledigen wollen. Andere bleiben bei einer gesellschaftlichen Runde einfach sitzen. Sie meinen, etwas zu verpassen, wenn sie ins
     Bett gehen. Wer kein Gespür hat für die Würde der Nacht – so meint das italienische Sprichwort –, der wird auch den Tag nicht gut bestehen. Er wird müde
     in den Tag hineinschlittern und nur halb mitbekommen, was am Tag geschieht. Er wird keinen Blick haben für das Geheimnis des Morgens, für die Frische des
     Morgens, die das Herz erquickt, für das Aufsteigen des Lichtes, das das Herz erhellt. Nur wer im Rhythmus des Tages und der Nacht lebt, erfährt das
     Geheimnis des Lebens.
    Tag und Nacht sind Bilder für das Leben. Der Morgen hat eine eigene Qualität. »Morgenstund hat Gold im Mund«, sagt das Sprichwort. Wer den Morgen
     bewusst erlebt, wird voller Schwung am Vormittag an die Arbeit gehen. Er wird die Müdigkeit desMittags genießen und sich die Pause eines
     kurzen Mittagsschlafes gönnen. Er wird den Nachmittag mit seinen eigenen Stimmungen erfahren. Und er wird den Abend dankbar genießen, sich ausruhen von
     der Arbeit des Tages. Er wird am Abend Abschied nehmen vom Tag, um sich in Gottes gütige Hände fallen zu lassen. Wer den Rhythmus des Tages und der Nacht
     durcheinanderbringt, dessen Seele wird verwirrt. Er verliert das In-sich-Ruhen, das Sich-Hineinschwingen in den Rhythmus des Lebens.
Wer hetzt, der hasst sich selbst
    N imm dir Zeit – und nicht das Leben!« Was die Verkehrswacht als Motto – und als Aufforderung für
     bedächtiges Tempo beim Autofahren – formuliert hat, das birgt eine tiefere Wahrheit in sich. Wir dürfen uns die Zeit nehmen. Sie liegt uns bereit. Wir
     brauchen sie nur zu ergreifen, wir brauchen sie nur ganz bewusst zu erleben. Dann nehmen wir uns Zeit, dann genießen wir die Zeit. Sich das Leben nehmen
     hat im Deutschen eine andere Bedeutung: den Suizid. Wer sich keine Zeit nimmt, der verdirbt sich das Leben und oft genug bezahlt er seine Ruhelosigkeit
     und Hetze mit dem Leben. Wer hetzt, der hasst sich selbst.
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