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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Autoren: Henry Slesar
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führte, war geschlossen. Dave holte einen klirrenden Schlüsselbund aus der Tasche. Dreimal mußte er es versuchen, bis er den richtigen Schlüssel fand.
    »Glauben Sie, daß wir zu spät dran sind?« fragte er.
    »Ich glaube gar nichts. Gehen wir rein!«
    Dave blieb drinnen an der Glastür stehen und blickte mit zusammengekniffenen Augen den finsteren Korridor entlang.
    »Gibt es einen Lichtschalter für die Korridorbeleuchtung?« fragte Theringer.
    »Irgendwo, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich wüßte, wo. Hagertys Büro liegt am äußersten Ende.«
    »Ich bin keine Eule«, murmelte Theringer. »Gehen Sie voran.«
    Sie schlichen so lautlos wie Indianer auf dem Kriegspfad, außer daß Theringers Schuhe komisch zu knarren anfingen und Dave mit dem Knie gegen den Wasserkühler vor Hagertys Büro stieß. »Tür versperrt?« flüsterte Theringer.
    Langsam drehte Dave den Knauf und hörte zu seiner Erleichterung das Schloß aufschnappen. »Nein.«
    Er öffnete die Tür und tastete nach den Schaltern, konnte sie aber nicht finden. An den drei Fenstern waren die Jalousien herabgezogen, aber matter Mondschein fiel durch die Ritzen herein und warf blauweiße Streifen auf den Teppich.
    »Ich sehe gar nichts«, brummte Theringer.
    Endlich fand Dave den Lichtschalter und drückte ihn nach unten. Die eierkistenförmigen Leuchtkörper an der Decke flackerten ein paarmal auf und erfüllten den Raum mit hellem Licht.
    Das Büro machte einen normalen Eindruck. An der einen Wand stand eine grüne Ledercouch. Ein Schrank enthielt eine nie benützte Bibliothek und ein oft benutztes Sortiment von Likörflaschen. Dann waren da noch ein antiker Tisch mit O-Beinen und eingelegter Perlmutterplatte sowie ein massiver, auf Hochglanz polierter Mahagonischreibtisch.
    Dann merkte Dave, daß er etwas vermißte.
    »Der Stuhl!« rief er aus.
    Hinter dem Schreibtisch war kein Drehstuhl zu sehen. Dave trat näher und sah, daß der Stuhl auf dem Teppich lag, umgeworfen von der blutigen Hand, die an der Armlehne Halt gesucht hatte.
    Die Leiche lag zusammengerollt wie ein Embryo neben dem Stuhl, als krümmte sie sich vor Schmerzen – wie es schien, hatten die schweren Bauchwunden den Tod herbeigeführt. Als Dave das Blut auf dem weißen Hemd der im Todeskampf erstarrten Leiche erblickte, wurde ihm übel, und er mußte sich schnell umdrehen, um diesem Anblick auszuweichen. Theringer, der weniger empfindsam war, kniete nieder und nahm eine hastige Untersuchung vor. Als er wieder aufstand, hatte Dave inzwischen das Büro verlassen, er beugte sich tief über den Wasserkühler, füllte den Mund mit dem eiskalten Wasser und japste nach Atem.
    »Wer ist es?« stieß er hervor.
    »Willie«, antwortete Theringer finster. »Der arme Willie Shenk. Das war der neue Treffpunkt. Alles hat sich so abgespielt, wie wir erwarteten, nur daß wir zu spät gekommen sind.«
    »Wir müssen die Polizei verständigen.«
    »Nicht hier in Hagertys Büro. Wir dürfen hier nichts anrühren. Wo finden wir hier ein Telefon?«
    »Sheplows Büro hat eine zweite Nachtleitung. Gleich vorne im Korridor.«
    Er wollte losgehen, aber Theringers Hand umschloß seinen Ellbogen und hielt ihn zurück. »Eine Sekunde!«
    »Was ist denn los?«
    »Bin ich verrückt – oder hat sich etwas bewegt?«
    Dave lauschte so angestrengt, daß seine Ohren zu klingen begannen.
    »Ich höre nichts«, murmelte er.
    »Was für Räume liegen auf dieser Seite?«
    »Natürlich lauter Büros. Sagen Sie mal, was haben Sie denn?«
    »Nichts. Ich bin nur der Meinung, wir sollten uns vorsehen.«
    »Vorsehen! Das habe ich satt! Und ich habe es auch satt, Sherlock Holmes zu spielen. Von jetzt an soll die Polizei sich mit dieser Schweinerei beschäftigen. Dafür wird sie bezahlt.«
    Er schüttelte die Hand des Reporters ab und ging mit langen Schritten durch den Korridor auf das Büro des Kassenverwalters zu. Er öffnete die Tür, streckte die linke Hand aus und knipste die Beleuchtung an. Als das grelle Licht den Raum erfüllte, kniff er die Augen zusammen, aber die schnelle, huschende Bewegung in der Ecke löste eine noch heftigere Reaktion aus. Er stieß einen Ruf des Erstaunens aus, als er merkte, daß Sheplows Büro nicht leer war, und als das erschrockene Wesen zitternd den Arm hob, um mit der Mündung der Waffe auf ihn zu zielen, schrie er wütend auf und warf sich nach vorn.
    Erst zehn Minuten später erfuhr er, daß er getroffen worden war. Als Theringer es ihm mitteilte, lachte er mit schwindligem Kopf.
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