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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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sicher, daß es Anton so erging. Sie wandte ihren Blick ab, versuchte, ihre ganze Aufmerksamkeit aus dem Abteil abzuziehen und an die vorbeihuschenden Dinge zu heften, die weißen Strümpfe der Birkenwälder, die endlos gereihten rötlichen Stelen der Kiefern. Aber je länger der Zug fuhr, um so beharrlicher galoppierten ihre Gedanken zurück durch die Wälder, über den See, über die Wiesen, durch die Alleen, an den Oberleitungsbussen vorbei durch die Straßen, Innenhöfe, hinein in den Belorusskij-Bahnhof. Was wäre, wäre sie stehengeblieben.
    Sie bemerkte erst nach Stunden, daß ihre Finger ihre Lippen berührten, in unterschiedlichen Positionen. Mal lagen drei zusammengelegt über ihrem Mund, als müßten sie Worte vom Aus-dem-Mund-Fallen abhalten, mal alle fünf, als forme sie einen Tintenfisch. Eine von Ottos Gesten, zusammen mit einer anderen, die er oft machte, wenn er das Spiel während einer gemeinsamen Probe kritisierte oder einen Gedanken beim Reden verfaßte. Dann stellte er die Fingerspitzen aneinander, die Daumen und kleinen Finger wie Querbalken fast, ein Spitzdach, das er vor seinem Mund errichtete und durch das hindurch er sprach. Ein Haus für das Wort, die Ellenbogen auf die Stuhllehne gestützt. Manchmal brachte er diesen Stuhl zum Kippen, das Spitzdach des Hauses aber blieb unverrückbar vor seinem Mund. In seiner Nähe zu sein war manchmal, wie in einem Schwarm Stechmücken zu stehen. Sie hatte das nie als Bösartigkeit empfunden, wie manche andere, sondern immer als Herausforderung, und die Traurigkeit dahinter gekannt. Sie wollte keine bösartige Frau werden, die sich schweigend an allen rächte für etwas, für das sie allein die Verantwortung trug. Das nicht. Und dennoch spürte sie, wie dieses Unbenennbare, dieser Schwarm Bösartigkeit, näher kam.
    »Die Kinder haben in den Kesseln geschlafen, Papulja, daswar so«, kam irgendwann einmal Sentas Stimme in ihren Gedanken vor.
    »Sie haben kein Zuhause.«
    »Aber in Kesseln, warum da?«
    Die einfache Neugier in der Stimme ihrer Tochter ließ sie einen Moment lang milder werden. Sie wandte sich der vorbeirasenden Landschaft zu. Sentas Stimme, die weiter erörterte: »Wie können sie auf dem Teer schlafen, der am Tag auf die Straße gegossen wird, der ist doch noch ganz heiß. Nicht mal die Arbeiter treten da drauf.«
    »Die Kessel sind leer in der Nacht, Liebes. Der Teer liegt auf den Straßen. Aber in den Kesseln ist es noch warm. Deshalb schlafen die Kinder darin.«
    »Aber wie kann er das zulassen?«, fragte Senta.
    »Sch«, machte Anton, und Nadja, die gerade mit drei Fingern an ihre Lippen klopfte, hielt inne und sagte: »Daran sind natürlich die Faschisten schuld.« Sie sah das schiefe Lächeln auf dem Gesicht ihres Mannes und das Nichtbegreifen im Gesicht ihrer Tochter, dann sah sie, wie Anton knapp nickte, immer weiter nickte, als schien er sich darin des Schrecks zu entledigen, den das Wort Faschisten in ihm ausgelöst hatte. Sie fuhren ins Land der Faschisten. Ja, dort fuhren sie hin.
    »Er läßt das nicht zu«, sagte Anton nach einer Weile, seinen Blick nur auf seine Tochter gerichtet, »Und wenn’s passiert ist, wird’s nie wieder passieren.« Dann begann er, Sentas Hand zu tätscheln, eine seltsame Geste, etwas, das er sonst nie machte, eine hilflose Bitte an seine Tochter, einfach nichts mehr zu sagen oder zu fragen, denn auf nichts schien es eine einfache Antwort zu geben, nichts war mehr unverfänglich und erklärbar.
    Sie schliefen in der Nacht. Die Beine verzwirbelt, Sentas rechter Arm lag über Peters angewinkelten Knien. Antons Kopf war nach vorne gefallen, abgeknickt, daß er auffuhr imSchlaf und sich zurechtrückte, als ließe er es selbst im Unbewußten nicht zu, haltungslos zu erscheinen.
    Sie waren durch Warschau durch, und Nadja saß immer noch aufrecht in ihrem Sitz, den Mantel geschlossen wie im Flur der Wohnung, ihre Füße in den halbhohen Schuhen, ihren Wollrock glatt und faltenfrei bis zur Wade. Die Brosche am Revers, die Hände gefaltet im Schoß. Die Augen auf einen Punkt weit hinter der Abteilwand, weit bis ans Ende des Zuges gerichtet. Ihre stolze Sturheit im Blick, nur etwas Müdigkeit am Rand, wie ein Schatten. Sie hatte sich ihren Tuchschal um den Kopf gebunden.
    Anton schob den Mantel in sein Hohlkreuz und machte das, was er in schwierigen Lebenssituationen am liebsten machte, er lenkte sich mit hoffnungsvollen Gedanken ab. »Eine Wohnung am Park«, sagte er leise zu sich, »zumindest, vielleicht,
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