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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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keine Deutsche, sagte Nadja, jetzt erst zu dem Nahesteher, der Hohestirn und dem Leninbart, in Gedanken, zu dieser im Grunde doch nicht wirklich bedrohlichen Troika. Ich bin Russin, ich bleibe Russin, warum soll ich nach Deutschland?
    »Mama, Mima«, rief Senta, »wir sind hier.«
    Die Lok, mattschwarz, der Rauch, den der Schornstein ausstieß, und ein Fauchen, das unter dem Trittbrett des Waggons herausdrang, eine Zunge, die an ihren Fußgelenken leckte. Der eiskalte Griff am Einstieg, von dem sie sicher war, er würde ihr die Haut abreißen, wenn sie ihn losließe. Sie stieg mechanisch ein – das dunkle Holz, Holz einer Kaschemme, einer Spelunke, dahinter saßen die Fratzen. Sie bestieg eine Attrappe, die wie sie nur vorgab vorhanden zu sein.
    Ich erklär’s dir noch mal, sagte Nadja zum Leninbart, jetzt,in der Ferne, im anderen Licht, bekam er mehr von den freundlichen Zügen des großen Vaters, mit ihm konnte man doch reden. Schon der Zar hat die Eltern hierhergeholt, um unser Land aufzubauen, Gasleitungen in der Stadt zu verlegen, so war es. So, so.
    Der Nahesteher war Kulisse, das sah sie nun deutlich, X-beinig und dünn wie die Holzvertäfelung. Die Hohestirn auch, Pappkameraden, und sie war vor ihnen zurückgewichen. Da griff wieder diese Wut nach ihr, die sie gut kannte, wenn etwas ungerecht war, wenn ein Mensch einen anderen demütigte, dann brach in ihr dieser Eifer aus, ein durch und durch ernster Gerechtigkeitssinn. Wie bei einer beginnenden Grippe, so verspannte sich ihre Nackenmuskulatur, begannen die Schläfen zu pochen. Sie versuchte, sich ihren Opportunismus kleinzureden: natürlich, die Angst. Sie wandte sich heftig um, drängte an den im Einstieg gestapelten Koffern vorbei. Ein Widerstand in ihrer Körpermitte, der Gürtel ihres Mantels schnürte in ihren Magen, Antons Stimme, von gar nicht mal fern, »Was für ein Theater. Vor den Kindern«, und ihre, die erwiderte: »Ein Irrtum, es kann nicht sein, ich muß es klären.«
    Er griff fester nach ihr. Er umklammerte sie, hielt sie im Arm, aber es war der Griff eines Mannes, der sich beherrschen mußte und nicht mehr genau wußte, wie das zu schaffen war. Er zitterte in der Umarmung. Dann stieß er sich von ihr los, wohl selbst überrascht von der Heftigkeit seines Griffes, gepaart mit dem Wunsch, ihr weh zu tun. Er ließ mit der gleichen Kraft von ihr ab, mit der er sie umschlossen hatte.
    Anton hatte zwei Koffer in die Netze geschoben und zwei auf den Boden gelegt, damit die Kinder ihre Beine darauf ausstrecken konnten. Das Fenster war zur Hälfte heruntergezogen, und noch waren die zwei weiteren Plätze in ihrem Abteil leer. Nadja stand in der Tür, bis Anton den Griff zu sich zogund sie entweder einen Schritt auf ihn zu oder von ihm weg machen mußte. In dem Augenblick sah sie an seinem Gürtel den Beutel.
    »Den willst du nicht wirklich mitnehmen.«
    »Hör auf«, sagte er. Seine Wangen waren gerötet, die Haut darunter fahl. »Ich trage ihn«, sagte er in einem Tonfall, als habe der Beutel am schwersten von allem gewogen.
    Sie verbarg nicht, wie lächerlich sie das fand. Der Unmut darin war noch die Antwort auf ihre Rangelei eben an der Tür. Ihr Wunsch, er wäre ihr nicht so überlegen mit seiner Gefaßtheit, seiner Besonnenheit, seinem Wissen, was zu tun war und was nicht.
    »Was ist das, Papulja?«, fragte Senta.
    »Erde.«
    »Wie wunderbar, für unseren Berliner Balkon«, sagte Nadja und setzte sich auf den freien Platz neben ihren Sohn. Der zwirbelte einen Knopf seines Mantels zwischen zwei Fingern, als übe er das Öffnen eines Tresors.
    »Ja, wir werden eine schöne Wohnung mit Balkon finden«, entgegnete Anton.
    »Entscheide dich wenigstens«, zischte sie mit der Unnachgiebigkeit einer Frau, die gerade gegen ihre Wünsche handelte, »ob du dieses Land hinter dir läßt oder dich im ewigen Heimweh einrichtest.«
    Sie schwiegen, bis der Zug sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, das Stampfen und Vibrieren unter ihnen in die Sitzpolster eindrang und die Wände der Bahnhofsburg in Fluß gerieten, aus dem Fensterausschnitt rutschten, den Blick auf Häuserwände, Innenhöfe, Straßen, Oberleitungsbusse, Alleen, schließlich Wiesen freigab. Sie fuhren einige Kilometer unterhalb des Gebiets vorbei, wo die Datscha war, der Nachbar, das Pferd, im letzten Winter, der See, der Wald, die Einsamkeit und ihre Schönheit, die Ruhe der Welt. Sie schwiegen, und irgendwann schienen sie das Unangenehme der Stille zu vergessen, zumindest war sich Nadja
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