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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Belorusskij-Bahnhof wogte ein Meer aus Menschen, begrenzt von Mauern, einmal darin, bekam man schwer Boden unter die Füße. Überall Rücken in graubraunen Mänteln, Pelzkragen, die Oberwasser hatten, Hutränder, straffes Haar unter Kopftüchern. Der Geruch von nasser Wolle, zu lieblichen Veilchenparfüms und verbrannten Kohlen. Dazwischen die Stakkatostimmen, die eiligen Rufe des Aufbruchs. Und dann ging alles unter, als die Luft zu vibrieren begann und ein Zug einfuhr. Das Quietschen, kurz bevor die Lok zum Stehen kam, zerriß die Halle in zwei Teile. Nadja hatte ihre Kinder im Blick, die sich vor ihr durch die Menge schoben und ihrem Vater folgten, der noch vor ihnen dreien als Bug das Wasser teilte.
    Er und seine vier Koffer. Unaufhörlich stieß er mit Passanten zusammen, mit anderen Reisenden und ihren Gepäckstücken, empfing Flüche, entschuldigte sich, machte sich schmaler, als er schon war, drehte sich immer wieder nach seinen Kindern um, bedachte Nadja nicht eines Blickes. Sie blieb stehen, sofort umschlossen von den wogenden Menschen, sie sah ihre Kinder darin verschwinden, dann ihren Mann, blieb weiterhin stehen, schloß die Augen und machte etwas, das sie seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten, vielleicht, seit sie Kind war, nicht mehr gemacht hatte. Sie schickte einen Wunsch ins hohe Dach des Bahnhofes, in diese Kathedrale des Aufbruchs, sie spürte förmlich, wie ihr kleines Gebet in den gemurmelten Hoffnungen aller anderen unterging.
    Kein Gott hier, noch wer anderes, sie blieb stehen. Schultern rempelten sie an, kantige Körperpartien schubsten sie, vor und zurück. Sie drehte sich um, so weit sie konnte, sie sah das obere Hell des offenen Ausgangs, der auch Eingang war, durch den sie gekommen war und zurückgehen konnte, jederzeit. Zurück in ihr Haus, in ihre Wohnung, ins Theater, die Bohlen von der Tür reißen, weitermachen. Nicht aufgeben. An Stalin schreiben, an Stalin glauben, für die gemeinsame Sache kämpfen, mit ihrer Kunst. Ihre Kinder waren nicht mehr zu sehen, das Meer hatte sie verschluckt. Auch ihr Mann, längst verschwunden. Eine Erleichterung, vielleicht war es für Anton wirklich eine Erleichterung, er mußte ihre Launen nicht mehr ertragen, die abweisende Kälte, zu der sie fähig war. Wie reizbar und verschlossen sie werden konnte, wenn sie zu lange nicht auf einer Bühne stand. Vielleicht war doch die Einsamkeit die Rüstung, die sie zum Leben brauchte. Alles andere nur eine Einbildung. Daß sie für eine Familie gemacht war? Sie sah Anton vor sich, seine genügsame Lebenstauglichkeit, sein verläßliches Funktionieren am Tag, bis er in einen – von durch und durch pragmatischen Träumen – erfüllten Schlaf fiel. Oder war es schon Gleichgültigkeit? Während sie ihren Körper, ihre Stimme, ihre Kraft auf der Bühne verstreut und nicht mehr das Gefühl hatte, daß da noch etwas übrig war für ihn. Aber dann erinnerte sie die Wärme ihrer Kinder, wie sie sich mit allem, was sie waren, anschmiegten, wie ihre Tochter manchmal zu ihr sagte, vollkommen selbsterstaunt: Mama, ich lieb dich so. Doch ein Trug, allein sein zu können, schon jetzt spürte sie den Wunsch, Senta und Peter in den Arm zu nehmen. Sollten die beiden nur von Anton durchs Leben gebracht werden? Er würde das können, ohne Zweifel. Was bliebe, bei den Kindern, war vielleicht nur eine diffuse Sehnsucht nach einer Frau, die wie sie roch. War es so? Sie waren noch klein, es gab doch kaum Erinnerung. Anton wolltesechs, sieben Kinder, er sollte sie haben können, mit einer anderen Frau, in Berlin, mit einer, die gerne Kinder bekam, deren Bestimmung es war, sie zu pflegen, aufzuziehen, bei ihnen zu sein. Eine andere Frau, die ihr Leben hingab für ihre Kinder. Wie sie das bewunderte, wenn eine das konnte. Sie konnte es nicht.
    Sie machte einen Schritt vor den nächsten, sie setzte ihre Ellenbogen ein, sie trat auf Füße, ohne sich zu entschuldigen. Bis sie den Mantelkragen ihrer Tochter entdeckte.
    »12«, hörte sie die Stimme ihres Mannes rufen, wiederholt von Senta, »12«. »Das Gleis«, rief er dann. »Das Gleis«, wiederholte ihre Tochter. Das Glas mit der Kaulquappe hielt sie über ihrem Kopf. Nichts von allem – Glas, Tier, Tochter – war ausgestattet für diese wankende Welt. Gleis 12. Der größere Teil der Menschen verschwunden. Berlin, stand am Zug. Dickbäuchige Lettern auf weißem Grund. Sie wollten zackig aussehen, hatten aber die Anmutung einer Bratwurst, die sich als Ballerina versuchte.
    Ich bin
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