Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
in der Nähe. Nein, am Park. Wo übrigens meine Großeltern mütterlicherseits schon gewohnt haben.«
    »Und unsere Sachen?«, fragte Senta, gerade aufgewacht.
    »Wir bekommen neue«, erklärte Anton und räusperte sich, »wir mieten sie mit der Wohnung mit. Praktisch, nicht?«
    »Auch Mamas Klavier?«
    Anton schaute Nadja an, Nadja schien sich auf ihre gefalteten Hände zu konzentrieren. Da erst bemerkte er die Veränderung unter dem Schal.
    »Mamas Klavier wird genauso wie ein Schrank und ein Tisch in der Wohnung stehen. Auf einem Teppich, im Wohnzimmer, zusammen mit einem runden Hocker, wie sie es am liebsten hat.« Er versuchte, noch einmal einen Blick auf ihre Haare zu erhaschen.
    »Ich will ein Aquadrium«, sagte Senta.
    »Ich verstehe.«
    »Da soll mein Frosch rein.«
    »Mal schauen, was sich da machen läßt.«
    »Ich will nicht mit Peter in einem Zimmer schlafen.«
    Anton versuchte ein Lachen, es klang sorgenvoller, als er sich eigentlich fühlte. Die Kinder schauten ihn an.
    »Auch da werde ich tun, was sich tun läßt.«
    »Mama?«, fragte Peter, ohne fortzufahren.
    Nadja hob den Blick, schaute ihren Mann an, ihren Sohn, das vorsichtige Lächeln, das Aufmunternde, Peters leicht geneigten Kopf, sein Warten auf eine Reaktion. Sie holte Luft durch die Nase, griff nach ihrer Handtasche, zog ihr in Chinaseide eingeschlagenes Notizbuch hervor und malte auf eine der hinteren, noch leeren Seiten den Grundriß einer Wohnung mit sechs Zimmern, einem Wohnzimmer mit Flügel und Bibliothek, einem Mädchenzimmer, zwei Balkonen, einer Abseite, sie malte mit ihren resoluten Händen ein resolutes Bild, sie malte sogar Fische in ein raumfüllendes Aquarium hinein, und skizzierte damit die Aufgabe, die Anton zu bewältigen hatte.
    Senta staunte.
    Nadja meinte zu hören, wie er seine Backenzähne aneinander rieb.
    »Wir werden auch eines dieser unbezahlbaren Autos bekommen, da bin ich mir sicher, und viel Geld dazu, weil Deutschland so froh ist, daß es uns wiederhat. Hitler kann gar nicht erwarten, daß wir zurückkommen, es ist gut möglich, daß eine Blaskapelle am Bahnhof steht und spielt, wenn wir den Zug verlassen.«
    Anton schickte die Kinder auf den Gang, sie sollten sich ein bißchen die Beine vertreten. Senta hielt für Peter die Tür auf, sie warf noch einmal einen Blick auf ihr Froschglas, nahm es aber nicht mit.
    »Straf mich nur ab«, sagte Anton, als die Kinder verschwunden waren.
    Nadja schaute ihn an.
    »Aber darf ich dich daran erinnern, daß nicht ich mir das hier alles ausgedacht habe.«
    »Ich wüßte nicht, was Stalin damit zu tun hat«, entgegnete sie mit einer trotzigen Härte, einem unbedingten, kindlichen Verlangen nach Widerspruch.
    »Egal«, sagte Anton leise, »es ist mir egal. Mach mich dafür verantwortlich. Schieb es mir in die Schuhe, daß wir hier sitzen, daß wir in einer Hinterhauswohnung hausen werden, daß du auf keiner Bühne stehen wirst. Egal, mach es einfach.« Er schaute demonstrativ aus dem Fenster in die vorbeiziehende polnische Landschaft.
    Sie hörten die Kinder draußen im Gang reden und laufen. Eine Sekunde nur gesellte sich zur Fremdheit eine Feindschaft, aber Anton vermied es, Nadja anzuschauen, um die Kluft nicht noch zu vergrößern. Er legte den Kopf in den Nacken. Betrachtete das Gepäck unter der Decke. Rieb mit den flachen, feuchten Innenflächen seiner Hände über die Polster der Armlehnen. »Sch«, zischte er, eher unbewußt, verbunden mit einem Ausatmen.
    »Ich mach keinen Mucks mehr«, sagte Nadja.
    »Gut.«
    »Freut mich, wenn wir uns einig sind.«
    Die Kälte tat ihm weh.
    Sie öffnete die verschlungenen Enden des Schals unter ihrem Kinn, hob ihn sich vom Kopf.
    »Deine Haare«, sagte er nur knapp.
    »Hätte ich mir noch eine Frisur machen sollen, bevor wir losgerast sind?«
    Er antwortete nicht, preßte nur die Lippen aufeinander.
    Sie stand auf, verließ das Abteil, ging den Gang hinunter, zog die Tür zur Waggontoilette auf und sah eine Frau, die sie selbst im ersten Augenblick nicht erkannte. Sie griff in ihre Haare, sie schob sie nach vorn, nach hinten, schaute jenseits ihres Scheitels, drehte sich, sah überall nur das gleiche melierte Grau, zog an allem, was sie zu fassen bekam, als sei es eine Perücke, die nur besonders gut festgesteckt war, siezog und riß, sie riß sich Büschel ihrer Haare aus, sie starrte die Haare in ihrer Hand an, hielt sie sich wieder an den Kopf, sie ließ das Gewirre los, und die Haare segelten leichtfüßig auf den Boden der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher