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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Warten. Und sie griff nach dem festen Stoff von Sentas Mantel, faltete ihren Kragen auf Kante, strich mit ihren Fingern das dünne Mädchenhaar zur Seite und hielt plötzlich inne, unfähig zu einer weiteren Bewegung, in der warmen Nähe ihres Kindes, mit dem zusammen sie in eine Welt hineinreiste, die Rudolfs dämmrigen Altherren-Antiquariat ähnelte, vollgestopft mit Ererbtem, Vergessenem, Überflüssigem. Noten, die keiner haben wollte. Ein Mausoleum, aber ohne den nötigen Glanz. Den unbedingten Glauben, daß ein Leben nach dem Tod sichlohne. Nur verschmähtes Künstlertum. Gebrochener Ehrgeiz. Unangenehm durchfärbt vom Gefühl, Rache nehmen zu wollen.
    Senta wich aus, stemmte die Fäuste in ein Polster.
    Anton schaute Nadja direkt in die Augen. Ihr herzmuschelverschlossener Mund. Die Mundwinkel voll wütender Trauer und Entschlossenheit. So rätselhaft wie es war, aber was war schon rätselhafter als seine Gefühle zu ihr – die Offensichtlichkeit ihres Trotzes nahm ihm die Angst. Ihr Zittern beruhigte ihn. Die Verletzlichkeit ihrer grauen Haare. Die kleine Geste, wie sie Sentas Mantelkragen gefaltet, ihr die Strähne aus dem Gesicht gestrichen hatte. Er sagte: »Ich hab ihn befreit. So ist es besser für ihn.«
    Und Senta stieß, fast stellvertretend erleichternd für alle, einen Schrei aus, der wohl bis ans Ende des Zuges zu hören war, denn kurze Zeit später kam einer der Schaffner vorbei und fragte, ob mit ihnen alles in Ordnung sei.

A nton stellte die Koffer neben die Eingangstür des Antiquariats, dann zog er beide Kinder zu sich, als könnte er sie unter den Aufschlägen seines Mantels verstecken. Nadja trat neben ihn, nahm Peter an die Hand, zog Senta auf die andere Seite, womit sie es schaffte, eine Wand zu errichten, die der dunklen Ladenfront etwas entgegenzusetzen hatte. Tante Ingje schloß von innen auf und richtete mit einer nervösen Geste ihr perfekt gewelltes Haar. Anton fädelte sich wieder vor Nadja ein, so war er, ein Faden, der durch jedes noch so kleine Öhr paßte, und schüttelte Tante Ingjes Hand, wobei er einen krummen Rücken machte und unentschlossen schien, ob er nicht doch einfach einklappen und ihr einen Handkuß geben sollte. Sie gingen im Entenmarsch hinein, Anton voran. Das Antiquariat war klein und vollgestopft, wie Anton es beschrieben hatte. Staubiges Papier, eine Tür mit zwei Stufen davor, eine altersschwache Türklinke, Spinnweben in den Stucktrauben unter der Decke. Eine Couch an einer Stirnseite, umrahmt von Regalen und Ablagen, davor ein Beistelltisch, auf dem auch Stapel von Noten, Liederbüchern, lose Blätter lagen.
    »Seid ihr endlich da«, plapperte Tante Ingje, »endlich, endlich, ich hab so lang gewartet, ich wußte ja nicht genau wann, sonst hätte ich euch vom Bahnhof, es ist ja nicht weit, sonst hätte ich auch den Herrn Drenner, der kümmert sich um so was, Achtung, hier, eine Stufe, nicht stolpern, ich stolpere hier immer, ich sag euch, seid ihr endlich, Achtung,hier.« Sie blieb unter dem Türrahmen des nächsten Durchgangs stehen, drehte sich um. »Ihr schlaft im Laden, hab ich mir gedacht, dann habt ihr eure Ruhe. Die Kinder können im Wohnzimmer, ja, dachte ich mir, so macht es keine Umstände.«
    »Keine Umstände«, wiederholte Anton.
    »Ich spreche ja kein Russisch«, sagte Tante Ingje.
    »Wir aber Deutsch«, sagte Anton.
    »Keine Umstände«, schloß sie und huschte voran durch den Flur, der Laden und Wohnung verband.
    Nadja hatte nichts gesagt zur Begrüßung, der Tante nur stumm die Hand gegeben, noch angewidert von Antons Untertänigkeit. Sie sagte den Rest des Tages nichts, setzte sich nur auf die Couch im Laden und betrachtete den Ausschnitt Berlin, den sie von hier aus sah: Fensterrahmen, Rhododendronblätter, mit etwas Abstand der schmiedeeiserne Zaun, Kopfsteinpflasterstraße, wieder ein Zaun, diesmal mit Bajonettspitzen, eine Hecke, dahinter ein Platz, ein Springbrunnen, Sandwege, Blumenbeete. Die Fensterscheibe war frisch geputzt. Die Spinnenweben und den Notenstaub konnte Ingje offenbar ignorieren, solange die Aussicht eine gewisse Klarheit hatte. Ihre Wohnung dagegen war der Inbegriff von Reinlichkeit. Sie wirkte wie ein Zuhause, in dem niemand zu leben schien. Leben wirbelte Staub auf. Leben hieß, daß man Spuren hinterließ. Tante Ingje schien sich von den Unbilden dieses Weltgesetzes befreit zu haben.
    Anton kam herein, klemmte sich hinter Rudolfs alten Schreibtisch – er stand viel zu nah an einem Regal – und übte das
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