Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
von allen Taugenichtsen der Vorstadt dem Drama bequem, wie von einem Balkon herab, zuschauen könnte, trieb ihn zu solcher Eile an, daß er zweimal hinfiel. Trotz seines tollen Laufs kam er für den ersten Pistolenschuß zu spät. Verzweifelt kletterte er auf den Maulbeerbaum. Als er sah, daß Silvère noch übrig war, lächelte er befriedigt. Von den Soldaten hatte er den Tod seiner Kusine erfahren, die Ermordung des Stellmachers machte seine Freude vollkommen. Er wartete auf den Schuß mit jener Wollust, die er stets beim Leiden anderer empfand, aber jetzt war sie noch verzehnfacht durch das Grausige des Geschehens und vermischt mit dem Kitzel des Schreckens.
    Als Silvère diesen Kopf erkannte, der allein über die Mauer ragte, diesen schmutzigen Bengel mit dem bleichen und grinsenden Gesicht und den über der Stirn leicht gesträubten Haaren, stieg eine dumpfe Wut in ihm auf, das Bedürfnis zu leben. Es war die letzte Auflehnung seines Blutes, eine Empörung, die nur eine Sekunde währte. Er fiel wieder auf die Knie; er schaute vor sich hin. In der trübseligen Dämmerung glitt eine letzte Vision an ihm vorüber: Am Ende des Ganges, dort, wo die SaintMittreSackgasse beginnt, glaubte er weiß und starr wie eine Heilige aus Stein Tante Dide zu sehen, die aus der Ferne seinen Todeskampf mit ansah.
    In diesem Augenblick fühlte er die Kälte des Pistolenlaufs an seiner Schläfe. Das fahle Gesicht Justins lachte. Silvère schloß die Augen; er vernahm, wie ihn die alten Toten leidenschaftlich riefen. In der Finsternis sah er nur noch Miette unter den Bäumen, mit der Fahne bedeckt, die Augen ins Leere gerichtet. Dann drückte der Einäugige ab, und damit war alles vorüber. Der Schädel des Knaben platzte wie eine reife Granatfrucht, sein Gesicht fiel auf den Grabstein, seine Lippen drückten sich auf die Stelle, die Miette mit ihren Füßen abgewetzt, auf diese warme Stelle, wo die Liebste ein Stück von sich zurückgelassen hatte.
    Bei den Rougons aber vermischten sich an diesem Abend beim Nachtisch die Lachsalven mit dem Dunst über der Tafel, der noch warm war von den Resten der Mahlzeit. Endlich genossen sie die Freuden der Reichen! Ihre Gier, durch dreißig Jahre zurückgedrängter Wünsche verschärft, zeigte ihre Reißzähne. Diese großen Ungesättigten, diese mageren Raubtiere, die gerade erst auf die Genüsse des Lebens losgelassen worden waren, begrüßten mit lautem Jubel das aufgehende Kaiserreich, die Herrschaft derer, die sich auf die Beute stürzen. Der Staatsstreich, der das Glück der Bonapartes im alten Glanz hatte auferstehen lassen, begründete auch das Glück der Rougons.
    Pierre erhob sich, ergriff sein Glas und rief:
    »Ich trinke auf das Wohl des Prinzen Louis, auf das Wohl des Kaisers!«
    Und all diese Herren, die ihren Neid im Champagner ertränkt hatten, standen auf und stießen unter betäubendem Jubelgeschrei ihre Gläser aneinander. Es war ein schönes Bild. Die Bürger von Plassans, Roudier, Granoux, Vuillet und die andern, weinten vor Freude und umarmten einander über dem kaum erst erkalteten Leichnam der Republik. Sicardot aber hatte einen glänzenden Einfall. Er löste aus Félicités Haaren eine rosenrote Atlasschleife, die sie sich zum Scherz über das rechte Ohr gesteckt hatte, schnitt mit seinem Dessertmesser ein Stückchen davon ab und befestigte es feierlich in Rougons Knopfloch.
    Dieser spielte den Bescheidenen. Mit strahlendem Gesicht wehrte er sich und murmelte:
    »Aber nein, ich bitte Sie, dazu ist es noch zu früh. Erst muß das Dekret heraus sein.«
    »Zum Donnerwetter!« rief Sicardot. »Wollen Sie das gefälligst behalten! Ein alter Soldat Napoleons heftet Ihnen einen Orden an!«
    Der ganze gelbe Salon klatschte Beifall. Félicité verging fast vor Glück. Der sonst so schweigsame Granoux stieg in seiner Begeisterung auf einen Stuhl, schwenkte seine Serviette und hielt eine Rede, die im allgemeinen Getümmel unterging. Der gelbe Salon triumphierte, raste.
    Aber das rote Atlasbändchen in Pierres Knopfloch war nicht der einzige rote Fleck in dem Triumph der Rougons. Unter dem Bett im Nebenzimmer lag vergessen noch ein Schuh mit blutigem Absatz. Die Kerze, die auf der anderen Seite der Straße neben Herrn Peirotte brannte, leuchtete im Dunkel der Nacht blutrot wie eine offene Wunde. Und in der Ferne, auf dem Grabstein hinten im SaintMittreHof, gerann eine Blutlache.
    Vergangenheit und Gegenwart, Kaiserreich und Dritte Republik in Zolas
    »RougonMacquart«
    Fragt man nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher