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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1
Autoren: Émile Zola
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durch die fieberhaften Leidenschaften der Epoche, die soziale und physische Einwirkung der verschiedenen Milieus. Das heißt, daß sich diese Familie, in einer anderen Zeit, in einem anderen Milieu geboren, nicht auf gleiche Weise verhalten hätte …«
    In weiterem Abstand fährt Zola dann fort: »Das Kaiserreich hat alle Arten von Begierden, alle Arten des Ehrgeizes entfesselt. Also eine Orgie an Begierden und Ehrgeiz. Der Durst, zu genießen, zu genießen durch Überforderung des Geistes und Überforderung des Körpers, Ermüdung und Verfall: die Familie wird brennen wie ein Stoff, der sich selbst verzehrt, und sich beinahe in einer Generation erschöpfen, weil sie zu schnell lebt.« Dabei steht das Interesse an physiologischen Fragen so unbedingt im Vordergrund, daß sich der Schriftsteller dem Studium des historischen Komplexes nur aus diesem Gesichtswinkel zuzuwenden scheint.
    Ein wissenschaftlicher Plan also, mit klarer Aufgabenstellung, an der neu eintretende Ereignisse, historische Veränderungen nichts zu rütteln vermögen. Die Gewichtigkeit aber, mit der Zola diese wissenschaftlichmedizinische Seite immer wieder vorträgt, mit der er demonstrativ immer wieder die von Taine und der modernen Medizin entlehnten entsprechenden Fachtermini (milieu, moment, hérédité, physiologique, détraquement) in seine Darlegungen einflicht, verrät, daß es dem Schriftsteller hier noch um etwas anderes geht als nur um eine sachliche Ausbreitung seiner künstlerischen Absichten, daß sein Herz mit im Spiel ist, er sich gegen etwas oder gegen jemanden wehrt, den seine Argumente aus dem Felde schlagen sollen.
    Sicherlich war es Zola, soweit er bewußt die Dinge erfaßte, Ernst mit seinen physiologischen Präokkupationen, glaubte er doch in Taine und den Vererbungsgesetzen die Zauberformel gefunden zu haben, in dem Chaos der modernen Erscheinungen menschlichen Zusammenlebens überhaupt so etwas wie eine Ordnung, Gesetzmäßigkeit zu entdecken.
    Aber darunter verbirgt sich noch ein Zweites, ihm selbst vielleicht sogar Unbewußtes: das Bestreben, seine eigene Besonderheit herauszustreichen, sich einen Platz zu erkämpfen an der Sonne literarischen Ruhmes, sich abzuheben von Zeitgenossen und Vorgängern. Der Name des heimlichen Gegners, dessen sich Zola verzweifelt erwehrt, fließt ihm gleichsam von ungefähr bei einer anscheinend ganz anderen, rein technischen Frage in die Feder, als er sich über die Kompositionsprinzipien seines Werkes klarzuwerden sucht. Er möchte seinen Roman »in breiten, logisch gebauten Kapiteln« schreiben, die allein durch ihre Aufeinanderfolge eine Vorstellung von der Entwicklung der Handlung vermitteln sollen. Er will sich auf zwölf, fünfzehn große Bilder beschränken, nicht eine Fülle von Szenen geben, dafür aber »statt der fortlaufenden Analyse eines Balzac« die einzelnen Komplexe bis ins einzelne durchdringen.
    Dieser Gedanke, anders als Balzac sein zu wollen, wiederholt sich im gleichen Abschnitt noch zweimal: wenn er die Notwendigkeit verneint, daß einem Roman eine bestimmte philosophische oder moralische Konzeption zugrunde liege – »Ja, so eine verrückte Philosophie à la Balzac vielleicht! Dann will ich schon lieber ein einfacher Romanschriftsteller sein!« –, und wenn er im Unterschied zu Balzac glaubt, mit zwei, drei Hauptgestalten, um die sich zwei, drei Nebenfiguren gruppieren, auskommen zu können.
    Er brauche kein Gewimmel von Menschen in seinen Romanen. »So werde ich der Nachahmung Balzacs entgehen, der eine ganze Welt in seinen Büchern hat« – auch wenn ich mir im Grunde eine ganz analoge Aufgabe gestellt habe, nämlich die Geschichte einer Epoche zu schreiben, meiner Epoche. Das war es! Diese Gleichheit der Aufgabenstellung, das vielleicht dumpfe Gefühl, daß der große Romancier bei dem neugeborenen Kind, dieser vielbändigen Familiengeschichte, mit seiner »Menschlichen Komödie« Pate gestanden hatte, ließen Zola die systematische, logische, wissenschaftliche Arbeit an seinem Zyklus gar so eifrig betonen, sein Anderssein gegenüber dem »wirren«, unlogisch arbeitenden Balzac, der erst mitten im Schaffen auf den Gedanken gekommen sei, seine Romane zu einem Ganzen zusammenzuschließen, in diesem Unterschied suchen. Dieses subjektive Element spielt zweifelsohne eine Rolle, denn Zola hatte sich gerade in der Konzipierungsperiode seines Zyklus erneut sehr intensiv mit Balzac beschäftigt, auch wenn dieses persönliche »Besessensein« von Balzac allein keineswegs
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