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Das gläserne Paradies

Das gläserne Paradies

Titel: Das gläserne Paradies
Autoren: Petra Durst-Benning
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andere. Mehr zu können, mehr zu wissen und zu wagen.
    Das Schrillen in ihren Ohren wurde lauter und lauter. Wanda drehte sich um, sah den dampfenden, schwarzen Koloß näher und näher kommen.
    Aus. Vorbei. Alles verloren.
    Sie machte einen Schritt nach vorn.

1. K APITEL
Ende Mai 1911
    Â»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, daß ich nochmals frage, aber soll ich wirklich ›Vater unbekannt‹ eintragen?«
    Mit gezückter Feder und erhobenen Brauen beugte sich der Beamte über den Tisch, schob die Geburtsurkunde dabei fast angewidert von sich. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hinter ihm fielen, verliehen seinem Haupt eine Art Heiligenschein, der so gar nicht zu der Art paßte, wie er das »gnädige Frau« aussprach.
    Weder Wanda noch Johanna war sein anmaßender Ton entgangen, doch keine der beiden Frauen reagierte darauf. Was hätten sie auch sagen sollen?
    Als Wanda nicht gleich antwortete, setzte der Mann noch hinzu: »Den Makel, in Schande geboren worden zu sein, verliert ein Mensch sein Leben lang nicht mehr, das ist Ihnen doch sicher bewußt? Wollen Sie das Ihrer Tochter wirklich antun?« Er machte sich keine Mühe, sein Mißfallen zu verbergen.
    Wanda blinzelte.
    Noch nie in ihrem Leben war sie so müde gewesen.
    Ihr Blick fiel auf den Säugling auf ihrem Arm, der selig schlief – nachdem er die ganze Nacht hindurch gekräht hatte. Wie jede Nacht seit ihrer Rückkehr nach Lauscha vor fünf Tagen …
    Â»Ja«, sagte sie mit bemüht fester Stimme.
    Der Beamte seufzte. »Ich muß schon sagen, das ist eine ziemlich abenteuerliche Geschichte. Eine Amerikanerin besucht ihre Verwandtschaft in Lauscha, weilt jedoch zur Niederkunft ihres Kindes in Italien …« Abwartend, fast lauernd, starrte er über seinen Schreibtisch, auf dem kleine Staubflusen im Sonnenlicht tanzten.
    Ein müdes Lächeln huschte über Wandas Gesicht.
    Abenteuerlich? Was würde der Mann erst sagen, wenn er die Wahrheit wüßte? Bestimmt würde ihm der Bleistift, den er gerade so hingebungsvoll spitzte, vor Schreck aus der Hand fallen.
    Die Wahrheit lautete nämlich, daß das Kind auf ihrem Arm gar nicht ihr eigenes war, sondern das ihrer Tante Marie.
    Marie, der sie, Wanda, nicht mehr hatte helfen können. Die jämmerlich verreckt war.
    Marie, die ihrer großen Liebe Franco nach Genua gefolgt war und dort hatte feststellen müssen, daß ihr Mann nicht nur ein Lügner, sondern auch ein Mörder war.
    Marie, die aufgrund dieses Wissens von Francos Familie eingesperrt worden war wie ein Tier. Oh, der Käfig war ein goldener gewesen, das schon! Aber das hatte nichts an der Tatsache geändert, daß sie die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft hatte allein überstehen müssen, den Kopf voller Sorgen und Ängste, das Herz schwer ob des Betrugs, dem sie aufgesessen war. Weder Maries Schwestern noch Wanda hatten etwas von dieser schrecklichen Entwicklung gewußt – Marie war jeglicher Kontakt mit der Außenwelt verboten worden. Ihr Ehemann Franco war zu jener Zeit längst von der New Yorker Polizei in Haft genommen worden, nachdem Ermittlungen ergeben hatten, daß die Familie de Lucca Menschenhandel im großen Stil von Italien nach Amerika durchführte.Menschenhandel, bei dem es Tote gegeben hatte. Ihr Mann ein Mörder – allein dieses Wissen mußte Marie fast umgebracht haben.
    Wanda schauderte. Reiß dich zusammen, sieh zu, daß du die Sache mit der Geburtsurkunde erledigt bekommst, sagte eine drängende Stimme in ihr, doch die Erinnerung an die schrecklichen Erlebnisse in Genua war stärker.
    Wanda hatte ihre Tante nur besuchen wollen und war auf nichts Böses gefaßt gewesen. Die Hölle, in die sie dann geriet, hätte sie sich nicht in ihren schlimmsten Alpträumen vorstellen können.
    Sie schaute hoch zu dem Beamten, der gerade einen zweiten Bleistift zu spitzen begann.
    Noch einmal Luft holen, ein bißchen wacher werden, die Erinnerung wegschieben – dann würde sie dem Mann all die Antworten liefern, die er haben wollte. Damit sie bekam, was sie dringend haben mußte: eine rechtmäßige Geburtsurkunde für Sylvie.
    Das war es, was Marie gewollt hatte.
    Marie …
    Wenn sie nicht aufpaßte, würde der Gedanke an die Tante ihre Tränen zum Fließen bringen, und sie würde nicht mehr aufhören können zu weinen.
    Nur das
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