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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht
Autoren: Dean Koontz
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und dann hörte er aus der Ferne, dass Carson ihm eine Warnung zurief.
     
    Jedes Mal, wenn ein Blitz den Himmel auflodern ließ, glitzerten die Regenwände wie Sturzbäche facettierten Kristallglases eines kolossalen Kronleuchters, doch statt das Dach in Licht zu tauchen, trug dieses Feuerwerk nur noch mehr zu der Düsternis und dem Durcheinander bei.
    Als sie eine Ansammlung von gebündelten Abzugsrohren umrundete, erhaschte Carson in diesem jeweils nur Sekundenbruchteile währenden Kristallglitzern einen Blick auf eine Gestalt. Zwischen zwei Blitzen konnte sie die Gestalt deutlicher sehen und erkannte, dass es Michael war, etwa
sechs Meter von ihr entfernt, und dann entdeckte sie eine andere Gestalt, die aus einem der Schuppen kam. »Michael! Hinter dir!«
    Schon während Michael sich umdrehte, packte ihn Harker – es musste Harker sein –, hob ihn mit übermenschlicher Kraft hoch über seinen Kopf und eilte mit ihm auf die Brüstung zu.
    Carson ließ sich auf ein Knie sinken, zielte tief, um Michael zu verschonen, und gab einen Schuss aus der Schrotflinte ab.
    Harker, dessen Knie sie getroffen hatte, wankte und schleuderte Michael dem Rand des Dachs entgegen.
    Michael knallte gegen die niedrige Brüstung, glitt halb über das Geländer, wäre fast gestürzt, fand aber Halt und konnte sich wieder aufs Dach ziehen.
    Harker hätte umfallen und vor Schmerzen schreien müssen, und seine Knie hätten ihm keine größere Stütze sein dürfen als Wackelpudding, doch er blieb auf den Füßen und stürzte sich auf Carson.
    Carson zog sich aus ihrer knienden Haltung hoch und begriff, dass sie gerade ihren letzten Schuss abgegeben hatte. Um der psychologischen Wirkung willen behielt sie die Schrotflinte in der Hand und wich zurück, als Harker auf sie zukam.
    Im Licht der Dachlampen hinter den Regenschleiern und in einer Serie von Blitzen, deren Helligkeit eskalierte, schien Harker ein Kind an seiner Brust zu tragen, obwohl er beide Arme frei hatte.
    Als das bleiche Ding, das sich an Harker klammerte, seinen Kopf umwandte, um sie anzusehen, sah Carson, dass es kein Kind war. Zwergenhaft, aber bar jeglichen Reizes der Zwerge im Märchen, restlos entstellt und missgestaltet, mit einem schmalen Schlitz als Mund und tückischen, garstigen Augen – das konnte doch gewiss nur ein Phantasma sein,
eine optische Täuschung, die durch das Licht und die Blitze, den Regen und die Düsternis entstand, wobei sich Dunst und Wahn miteinander verschworen, um diese abscheuliche Illusion hervorzurufen.
    Und doch verschwand diese Ungeheuerlichkeit nicht, als sie blinzelte, um das Bild zu vertreiben. Und als Harker näher kam, obwohl Carson stetig vor ihm zurückwich, glaubte sie zu erkennen, dass das Gesicht des Detective seltsam ausdruckslos war, die Augen glasig, und das beklemmende Gefühl, das Ding, das sich an ihn klammerte, beherrschte ihn, ließ sie fast die Nerven verlieren.
    Als Carson mit dem Rücken an irgendwelche Abzugsrohre stieß, rutschte sie auf dem nassen Dach aus und wäre fast hingefallen.
    Harker kam auf sie zu wie ein Löwe, der sich auf seine strauchelnde Beute stürzt. Das Triumphgeheul schien aber nicht er auszustoßen, sondern das Ding, das an seiner Brust hing … oder sich vielmehr aus seiner Brust hinausdrängte.
    Plötzlich tauchte Deucalion auf und packte sowohl den Detective als auch die abscheuliche Kreatur, die ihn trieb. Der Riese hob die beiden so mühelos und so hoch in die Luft, wie Harker Michael über seinen Kopf gehoben hatte, und warf sie vom Dach.
    Carson eilte zur Brüstung. Harker lag bäuchlings auf der Straße, mehr als zwölf Meter unter ihnen. Er lag so still da, als sei er tot, aber sie hatte ihn in der vergangenen Nacht schon einmal einen tödlichen Sturz überleben sehen.

95
    An der Seite des Lagerhauses führten Feuertreppen im Zickzack hinunter. Carson blieb gerade lange genug oben stehen, um sich von Michael die drei Ersatzpatronen aushändigen zu lassen und die Pumpgun zu laden.
    Die Eisenstufen waren im Regen schlüpfrig. Als sie die Hand nach dem Geländer ausstreckte, fühlte es sich unter ihren Fingern glitschig an.
    Michael folgte dicht hinter ihr, zu dicht, und unter ihnen bebten und klapperten die Stufen. »Hast du dieses Ding gesehen? «
    »Ja.«
    »Dieses Gesicht?«
    »Ja.«
    »Es kam aus ihm raus.«
    »Was?«
    »Aus ihm raus!«
    Sie sagte kein Wort. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie raste einfach nur hinunter, eine Treppe nach der anderen.
    »Das Ding hat mich
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