Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht der Anderen

Das Gesicht der Anderen

Titel: Das Gesicht der Anderen
Autoren: Beverly Barton
Vom Netzwerk:
Unter der Woche musste sie spätestens um halb elf zu Hause sein. Das hieß, ihr blieb ohnehin immer nur eine halbe Stunde mit Dante. Und auf diese halbe Stunde lebte sie hin. Dann hielt er sie im Arm, und sie küssten sich, und er sagte ihr, wie sehr er sie liebte.
    Schon bald würden sie und Dante für immer zusammen sein. Dann müsste sie sich nicht mehr an die Vorschriften anderer Leute und die strengen Ausgangszeiten ihrer Pflegeeltern halten. Dante und sie hatten ein Geheimnis, das sie niemandem verraten durften. Sie hatten sich verlobt und wollten heiraten, wenn Amy im Mai achtzehn wurde und die Highschool abgeschlossen hatte. Vor zwei Wochen hatten sie Verlobungsringe getauscht, Symbole ihres Versprechens. Dante hatte ihr einen Diamantring von einem halben Karat geschenkt und gescherzt, er würde bis zur Rente an diesem Ring abzahlen. Sie hatte ihm den Diamant- und Onyxring ihres Vaters gegeben, den sie, seit sie sechs Jahre alt war, an einer Kette um ihren Hals getragen hatte. Er war in dem Beutel mit persönlichen Gegenständen ihrer Eltern gewesen, den ihr ein Mitarbeiter des Sozialamts damals ausgehändigt hatte.
    Jetzt trug sie an der Kette um den Hals ihren Verlobungsring. Sie achtete darauf, dass er immer gut unter ihrer Kleidung verborgen war. Aber in siebeneinhalb Monaten würde sie ihren Verlobungsring stolz tragen dürfen – zusammen mit ihrem Ehering. Diesen Tag sehnte sie herbei wie keinen anderen. Sie wünschte sich nichts mehr, als endlich Dantes Frau zu sein. Sie liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt, mehr als ihr Leben. Egal, was die anderen sagten: Sie spürte, dass es wahre Liebe war, eine Liebe, die nie enden würde. In ihrem Innersten wusste sie, dass Dante und sie sich immer lieben würden.
    Während sie weiter ungeduldig wartete, kamen mehrere Wagen vorbei, doch ansonsten war die Straße menschenleer. In Colby war nach Einbruch der Dunkelheit selbst auf der Hauptstraße nicht mehr viel los, und nach zehn Uhr war alles wie ausgestorben. Das
Dairy Dip
hatte bis zehn Uhr abends geöffnet – eine Stunde länger als die meisten anderen Lokale in der Stadt.
    Amy hörte den Fremden, der sich ihr näherte, noch bevor sie ihn sah. Leise Schritte von Turnschuhen auf dem Bürgersteig. Wahrscheinlich nur ein Jogger auf seiner Abendrunde, dachte sie, als der Mann näher kam. Sie sah ihn lächelnd an. In Colby war man auch zu Fremden freundlich. Amy kannte den Mann nicht, der jetzt neben ihr stehen blieb.
    “Guten Abend”, sagte er mit heiserer, leiser Stimme.
    “Abend”, antwortete Amy.
    Sie stellte fest, dass er nicht wie ein Jogger aussah. Er trug eine verwaschene Jeans und einen ausgebeulten Strickpullover. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich. Sei doch nicht albern, sagte sie zu sich. Dieser Mann sieht nicht gefährlich aus. Sein braunes Haar war kurz geschnitten und etwas lockig. An seinen haselnussbraunen Augen und dem gut rasierten Kinn war auch nichts Außergewöhnliches. Ganz einfach irgendein Typ, dachte Amy. Er sah ganz normal aus und hatte nichts an sich, weswegen sie sich fürchten müsste.
    “Warten Sie auf jemanden?”, fragte der Fremde jetzt.
    “Ja. Mein Freund holt mich gleich ab.”
    “Ein hübsches Mädchen wie Sie lässt man doch nicht warten.”
    “Tut er sonst auch nicht. Er hatte wohl Probleme mit seinem Wagen.”
    Der Mann kam näher. Amys Herzschlag beschleunigte sich. Eine dunkle Vorahnung ließ sie innerlich verkrampfen.
    Der Mann lächelte. Sein Lächeln gefiel ihr nicht. Es war etwas Falsches an der Art, wie er sie ansah, als wüsste er etwas, was sie nicht wusste. Amy wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Eingangstür des
Dairy Dip
.
    Ich brauche nur zu schreien, sagte sie sich. Irgendjemand wird mich hören.
    Sie öffnete den Mund, um dem Mann zu sagen, er solle sie in Ruhe lassen, oder sie würde schreien, doch bevor sie ein Wort herausbekam, zog der Mann etwas aus der Hosentasche, packte Amy und presste ihr ein übel riechendes Taschentuch auf Mund und Nase.
    Lieber Gott, hilf mir!
    Amy versuchte, sich zu wehren, doch natürlich war ihr der Mann überlegen. Sie spürte, wie sie langsam ohnmächtig wurde.
    Dante! Dante, wo bist du?
    Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit raste Dante vom College in Richtung Innenstadt. Fünfundzwanzig Minuten hatte er Amy jetzt schon warten lassen. Wahrscheinlich war sie inzwischen total durchgefroren und krank vor Sorge. Sein letzter Kurs hatte fünfzehn Minuten länger gedauert als sonst, und auf dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher