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Das Gesicht der Anderen

Das Gesicht der Anderen

Titel: Das Gesicht der Anderen
Autoren: Beverly Barton
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helfen.”
    “Niemand kann mir helfen.” Wie hätte sie Hannah erklären können, dass sich gerade ihr ganzes Leben in Luft aufgelöst hatte? Dass alles, an das sie geglaubt hatte, nichts als Lüge war? Ihr ganzes Leben war eine einzige, fette Lüge!
    “Was ist denn mit deiner Mutter? Ihr erzählt euch doch sonst immer alles. Sie ist die Beste. Niemand kann …”
    “Nein. Ich kann nicht mit Mama reden. Noch nicht. Vielleicht auch nie.” Hannah hatte Leslie Anne immer um das tolle Verhältnis zu ihrer Mutter beneidet. Darum konnte Leslie Anne ihr jetzt nicht sagen, wie sehr sie ihre Mutter hasste. Dafür, dass sie sie all die Jahre angelogen hatte.
    Das alles war erst gestern gewesen, aber es kam ihr vor, als läge es Wochen zurück. Sie war so lange gefahren, bis es dunkel wurde, etwa gegen sieben Uhr abends. Zum Glück gab es die Sommerzeit. Es war eine ganz neue und spannende Erfahrung gewesen, in einem Motel zu übernachten. Selbst als sie bar zahlte, hatte der Mann hinter dem Tresen keine Fragen gestellt. Er hatte ihr einfach den Schlüssel ausgehändigt und ihr gesagt, Check-out sei um elf Uhr. Ganz allein an dem fremden Ort hatte sie allerdings nur ein paar Stunden geschlafen. Immer wieder war sie aufgewacht, weil schreckliche Albträume sie plagten. In ihrem Kopf spielte sich immer wieder der fürchterliche Moment vom Vortag ab, als sie dieses Päckchen öffnete, das an sie adressiert war. Und den Brief las, der die beigefügten Zeitungsausschnitte erklärte.
    Leslie Annes Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen hatte. Es war gleich zwei Uhr nachmittags. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass es an der Interstate 59 so wenige Raststätten gab, an denen sie etwas Anständiges hätte essen können. Das letzte Schild hatte angekündigt, sie werde in etwa fünfzehn Minuten den Ort Meridian erreichen. Dort gab es bestimmt mehrere Schnellrestaurants und sie könnte sich einen Burger und Pommes holen.
    Sie versuchte, nicht an den Brief und die Zeitungsausschnitte über den Serienmörder zu denken, der vor zehn Jahren in Texas hingerichtet worden war. Aber es gelang ihr nicht. Als sie den Brief das erste Mal las, hatte sie es nicht glauben wollen. Sie war sogar sofort zu ihrer Mutter gegangen, um von ihr zu hören, dass alles gelogen war. Doch in dem Moment, als sie ihrer Mutter gegenüberstand und die sie anlächelte, war sie wie erstarrt und völlig unfähig gewesen, auch nur ein Wort zu sagen.
    “Ist etwas, Schatz?”, hatte ihre Mutter gefragt. “Du siehst traurig aus.”
    Leslie Anne hatte den Kopf geschüttelt und eine Lüge zustande gebracht. “Ich hab nur Kopfschmerzen. Vielleicht kann Eustacia mir das Essen aufs Zimmer bringen.”
    Vielleicht hätte ich Mama doch von dem Päckchen erzählen sollen. Vielleicht hätte ich nicht einfach wegrennen sollen.
    Genau diese Zweifel und diese Unentschlossenheit waren der Grund dafür gewesen, dass sie Fairport verlassen hatte. Sie konnte ihre Mutter und ihren Großvater einfach nicht mit diesen schlimmen Vorwürfen konfrontieren – nicht, bis sie nicht alles genau verstanden und ihre eigenen Gefühle geordnet hatte. Selbst wenn jedes Wort in diesem Brief stimmte – wie wahrscheinlich war es, dass ihre Mutter die Wahrheit zugeben würde? Falls es überhaupt die Wahrheit war.
    Sie hätte doch nur wieder gelogen. Das weißt du doch ganz genau. Schließlich hat sie dich jahrelang belogen.
    Als sie noch nicht in der Schule gewesen war und ihre Mutter gefragt hatte, warum sie nicht wie alle anderen Kinder einen Vater hätte, hatte ihre Mutter gesagt, ihr Vater sei tot. Für eine Vierjährige reichte diese Begründung. Und als sie später, mit zehn, mehr wissen wollte, hatte ihr Großvater erklärt, dass ihre Eltern noch Teenager und nicht verheiratet gewesen wären und dass ihr Vater bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen sei. Der Name ihres Vaters, so hatte Großvater behauptet, sei John Allen gewesen. Erst mit vierzehn, als ihr per Zufall ihre Geburtsurkunde in die Hände fiel, hatte Leslie Anne die Wahrheit erfahren. In der Spalte, wo “Name des Vaters” stand, war “unbekannt” eingetragen. Seitdem fragte sie sich so einiges. Hatte es diesen John Allen wirklich gegeben, oder war er nur ein Fantasieprodukt ihres Großvaters? War ihre Mutter vielleicht mit mehreren Männern zusammen gewesen und wusste nicht, wer der Vater war? War ihr echter Vater irgendwo da draußen und wusste nicht einmal, dass
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