Das Gesicht der Anderen
gestorben war, war Tante Sharon wie eine zweite Mutter für mich. Und Leslie Anne ist ihr Ein und Alles.”
“Ich muss Sie noch etwas fragen.”
Tessa nickte, obwohl sie Angst vor der Frage hatte. Aber schließlich machte Lucie nur ihren Job.
“Wenn Sie vorhatten, Ihrer Tochter nie die Wahrheit über ihren Vater zu sagen, warum haben Sie dann nicht einfach den Namen John Allen auf der Geburtsurkunde eintragen lassen?”
“Weil damals weder Daddy noch ich so weit gedacht haben”, sagte Tessa. “Erst als Leslie Anne im Kindergarten war und nach ihrem Vater fragte, erfand Daddy diesen Namen und die Geschichte von meinem Freund, der bei dem fiktiven Autounfall ums Leben kam.”
“Ich verstehe.”
“Wir waren der Meinung, dass diese Lüge – jede Lüge – besser für sie wäre als die Wahrheit.”
“Und was haben Sie ihr gesagt, als sie die Geburtsurkunde entdeckte?”
“Ich hätte ihr ja beinahe alles erzählt, aber Daddy kam mir zu Hilfe. Er schwor Leslie Anne, dass ihr Vater John Allen war. Er erfand sogar eine Geschichte über John: Er war ein Waisenkind, das für Daddy arbeitete. Und als dieser John und ich uns dann begegnetet sind, haben wir uns verliebt und …” Tessa seufzte. “Natürlich waren Daddy, ich und Tante Sharon nicht die Einzigen, die wussten, dass John Allen nur Daddys Fantasie entsprungen war. Die ganze Familie wusste, dass ich nie einen John Allen gekannt hatte, denn schließlich war ich praktisch mit Daddys Patensohn Charlie Sentell verlobt. Meiner Mutter hat Daddy erzählt, Leslie Anne sei Charlies Kind. Und der gute Charlie hat das Spiel mitgespielt. Die Wahrheit hat Mutter zum Glück nicht mehr erfahren.”
“Es wundert mich, dass Sie mit achtzehn schon verlobt waren.”
“Wir waren nicht wirklich verlobt. Sagen wir mal so: Daddy hatte Charlie für mich auserkoren.”
“Und warum haben Sie Charlie dann nicht geheiratet?”
“Es ging nicht.”
“Darf ich fragen warum?”
“Ich wollte nicht”, gab Tessa zu. “Charlie hat mir einen Antrag nach dem anderen gemacht. Daddy hat mich angefleht. Aber ich wollte nicht. Ich vermute, meine Weigerung hatte mit der Vergewaltigung und meinen endlosen Therapien zu tun. Ich bin mir nicht sicher. Rückblickend muss ich feststellen, dass es vermutlich besser gewesen wäre, Charlie zu heiraten.”
“Hinterher weiß man alles besser.”
“Das stimmt.” Tessa lächelte. “Gibt es sonst noch etwas?”
“Ich denke nicht.”
“Dann sollten wir wieder nach unten gehen und nachsehen, ob Daddy und Mr. Moran noch leben oder ob sie sich schon gegenseitig umgebracht haben.”
Als Tessa die Tür zu Leslie Annes Suite geschlossen hatte und sich gerade zum Gehen wandte, hielt Lucie sie am Arm fest.
“Ja?”, fragte Tessa.
“Sie sollen wissen, dass ich Sie für eine erstaunliche Frau halte und dass Ihre Tochter froh sein kann, eine so tolle Mutter zu haben.” Lucie ließ Tessa los. “Wir werden Leslie Anne finden und sie zu Ihnen zurückbringen. Gesund und munter.”
Mit tränenerstickter Stimme sagte Tessa: “Sie ahnen sicher, was meine größte Angst ist.”
“Wir werden sie finden. Vier von Dundees besten Agenten kümmern sich darum.”
Tessa betete zu Gott, dass diese besten Agenten ihr Kind retten würden. Der bloße Gedanke daran, dass ihr geliebtes kleines Mädchen dieselben Qualen erleiden müsste wie sie, war ihr schlimmster Albtraum.
Eine halbe Stunde später begleitete Lucie Dante zu ihrem Mietwagen, der immer noch vor dem Herrenhaus geparkt war. Zu Lucies Überraschung hatten Dante und G. W., als sie mit Tessa in die Bibliothek kam, bei einem Glas von G. W. bestem Bourbon vor dem Kamin gesessen und geplaudert wie zwei alte Freunde.
“Halt G. W. am kurzen Zügel”, sagte Dante. “Man sollte ihn übrigens noch mal daran erinnern, warum das Aussetzen einer halben Million Dollar Belohnung für das Auffinden seiner Enkelin keine gute Idee ist.”
“Du kommst aber so oft wie möglich vorbei, oder?”, wollte Lucie wissen. “Tessa Westbrook ist nicht so tough, wie sie tut. Jede Nachricht von dir, selbst wenn es nur die ist, dass es nichts Neues gibt, wird sie beruhigen. Sie hat natürlich panische Angst, dass Leslie Anne einem Vergewaltiger in die Hände fällt.”
“Auch ohne ihre eigene Geschichte zu kennen, ist das eine berechtigte Sorge.”
“Du wirst das Kind finden, oder?”
“Du magst Ms. Westbrook, hab ich recht?”
“Ja, ich mag sie.” Lucie sah ihn prüfend an. “Tu mir einen Gefallen. Lass
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