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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
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sah von Reuben zu Stuart und schließlich zu Laura hinüber und fragte: «Was lernen wir nun also daraus?»
    Niemand sagte etwas, nicht einmal Stuart, der den Kopf auf die Hände stützte und Margon fragend ansah.
    «Ich verstehe es so», sagte Laura nach einer Weile. «Dieses Volk hatte erstaunliche Kräfte entwickelt, um sich gegen die feindlichen Überfälle wehren zu können, wahrscheinlich im Laufe von Jahrtausenden. Es war eine Überlebensstrategie, die sie im Laufe der Zeit immer mehr perfektioniert hatten.»
    Margon nickte. «Und weiter?»
    «Den Geruch des Feindes zu identifizieren, war Teil dieser Strategie», fuhr Laura fort. «Mit der Zeit wurde die Wahrnehmung dieses spezifischen Geruchs zum Auslöser für die Verwandlung.»
    Wieder nickte Margon.
    «Dass sie sich nicht verwandelten, wenn sie auf die Jagd gingen, lag vermutlich daran, dass sie eine innere Bindung zur Tierwelt hatten», sagte Laura.
    «Gut möglich», sagte Margon.
    «Aber Sie», fuhr Laura fort, «ein
Homo sapiens sapiens
, fühlten sich den wilden Tieren nicht nur nicht verwandt, sondern fürchteten sie und wollten sie töten, obwohl sie weder schuldig noch unschuldig waren, weder gut noch böse.»
    Stuart schaltete sich ein und fragte: «Wenn die Evolution etwas ganz Neues in Ihnen hervorgebracht hat – was ist dann mit uns? Immerhin sind seitdem Tausende von Jahren vergangen, oder? Genug Zeit für evolutionäre Entwicklungen, die heute Teil von uns sind.»
    «Davon kann man ausgehen», sagte Margon. «Damals hatte ich noch keine Vorstellung von einem evolutionären Kontinuum. Niemand hatte das. Ich glaubte an die Einzigartigkeit und Überlegenheit der menschlichen Rasse und war nicht der Meinung, dass man von Tieren etwas lernen kann. Ich wollte meine neuen Fähigkeiten als Waffe benutzen und stärker sein, als ich es auf jede andere Art sein konnte. Ich wollte alle besiegen. Aber es war nicht nur das. Ich wollte mich auch wie ein Wolf fühlen, wie ein Wolf hören und sehen und nach meiner Rückverwandlung mein menschliches Dasein mit den neugewonnenen Erfahrungen bereichern. Es war ein selbstsüchtiges und anmaßendes Unterfangen. Später habe ich darunter sehr gelitten und mich fast nur noch verwandelt, wenn ich mich verteidigen musste.»
    «Verstehe», sagte Laura. «Wann haben Sie dann angefangen, die Dinge anders zu sehen? Immerhin sprechen Sie heute von Chrisam – ein Wort, das so viel bedeutet wie ‹heilige Substanz›. Sie würden es nicht so nennen, wenn Sie die Sache immer noch so negativ sähen. Vielmehr scheinen Sie es jetzt als eine verbindende Kraft zu betrachten, die allen Lebensformen Wert beimisst, alle Kreaturen als Teil der Schöpfung schätzt.»
    «Das ist wahr», sagte Margon. «Mit der Zeit habe ich mir diese Sichtweise angeeignet. Ich brauchte nicht Darwin zu lesen, um zu begreifen, dass alles, was auf Erden lebt, miteinander in Verbindung steht. Ich konnte es mit meinen eigenen Sinnen erfassen. Irgendwann entwickelte ich dann den Wunsch, eine Dynastie der Unsterblichen zu gründen, bestehend aus Wesen, die menschliche und animalische Fähigkeiten in sich vereinen und mehr von der Welt verstehen als Mensch oder Tier. Ich träumte von Morphenkindern, die allen Lebensformen mit Hochachtung begegnen, weil sie die Vielfalt selbst in sich tragen. Ich stellte mir diese Wesen als moralisch gefestigt vor, niemandem Rechenschaft schuldig, aber stets auf der Seite des Guten, des Barmherzigen, des Bewahrenden.»
    Margon klang so enttäuscht, dass Laura fragte: «Meinen Sie, es sei Ihnen nicht geglückt, eine solche Dynastie zu gründen?»
    «Da habe ich meine Zweifel», sagte Margon. «Ich sehe nicht, dass Morphenkinder ihre besonderen Fähigkeiten nutzen, um alles Lebende zu schützen. Ich halte unser Sosein eher für einen evolutionären Zufall, der nichts Weltbewahrendes bewirkt.»
    Felix schüttelte den Kopf und sagte: «Sei nicht so negativ, Margon! Du hast gerade deine schwärzesten Erinnerungen hervorgeholt, aber das bedeutet nicht, dass die Zukunft schwarz ist.»
    Margon nickte ihm zu. Dann sah er Reuben, Stuart und Laura an und sagte: «Ich möchte, dass andere diesen Traum verfolgen. Dass sie zu Kronzeugen für die Ganzheit allen Lebens werden und alles tun, um diese Ganzheit zu bewahren, auch wenn ich selbst vielleicht nie wirklich daran geglaubt habe.»
    Das Eingeständnis schien ihm nicht leichtzufallen. Wie ein gebrochener Mann saß er da, und Felix war sichtlich um ihn besorgt, genau wie Thibault.
    «Ich
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