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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe
Autoren: Anne Rice
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sich.
    «Hat sich das Inselvolk auch verwandelt, um auf die Jagd zu gehen?», fragte er.
    «Nein», sagte Margon. «Niemals. Die Leute gingen auf die Jagd, aber ohne sich zu verwandeln. Ich war von Anfang an anders. Wenn die Wildnis nach mir rief und ich auf die Jagd gehen wollte, habe ich mich verwandelt. Ich habe es geliebt, aber die Leute fanden es befremdlich. Sie konnten sich nicht verwandeln, ohne das Böse zu riechen. Dass ich es konnte, galt ihnen als Beweis meiner Göttlichkeit.»
    «Dabei war es nur ein Zufallsergebnis der Mutation», sagte Laura.
    «Richtig», sagte Margon und nickte ihr zu. «Ich war anders als sie, etwas ganz Neues.»
    Nach kurzem Nachdenken fuhr er fort: «Ich musste selbst erst nach und nach herausfinden, was aus mir geworden war. Anfangs war mir auch nicht bewusst, dass ich unsterblich geworden war. Ich hatte gesehen, dass die Stammeskrieger nahezu unverwundbar waren, wenn sie kämpften. Wenn sie verletzt wurden, heilten ihre Wunden schnell, und sie überlebten fast alles, was ihnen zustieß, solange sie verwandelt waren. Bei mir stellte sich dann heraus, dass meine Wunden noch schneller heilten als ihre, und zwar unabhängig davon, ob ich mich als Wolf oder als Mensch verletzt hatte. Zunächst wusste ich aber nicht, was das zu bedeuten hatte. Noch als ich den Stamm verließ, war mir nicht klar, dass ich mich auf eine Wanderschaft begab, die Jahrtausende dauern sollte. Und noch etwas muss ich euch berichten.» Er sah Reuben an. «Vielleicht können Sie damit eines Tages Ihrem Bruder helfen, wenn er an den Abgründen seiner Seele besonders leidet. Ich habe nur selten darüber gesprochen, aber Ihnen will ich es sagen.»
    Felix und Thibault sahen ihn gespannt an.
    «Auf der Insel gab es einen heiligen Mann. Heute würde man ihn als Schamanen bezeichnen. Er nahm Giftpflanzen zu sich, die ihn in Trance oder Raserei versetzten. Ich habe ihn kaum beachtet. Er tat niemandem etwas zuleide, meist hockte er glücklich umnebelt am Strand und kratzte Zeichen und Symbole in den Sand. Er hat nie gegen mich opponiert, und ich habe sein angeblich mystisches Wissen nie öffentlich in Frage gestellt, obwohl ich nicht daran glaubte.
    Als ich die Insel dann verlassen und ans Festland übersetzen wollte, nachdem ich das Zepter sozusagen an einen Nachfolger übergeben hatte, kam dieser Schamane ans Ufer und rief mich in Anwesenheit des ganzen Stammes an.
    Wir waren mitten im Abschiedszeremoniell, mit guten Wünschen und sogar Tränen, und niemand wollte diesen Irren sehen, der wieder mal völlig berauscht war und in Rätseln sprach.
    Aber er ließ sich nicht beirren und kam immer näher. Als er die Aufmerksamkeit aller errungen hatte, zeigte er mit dem Finger auf mich und sagte, die Götter würden mich dafür bestrafen, dass ich die Macht an mich gerissen hatte, die eigentlich ‹dem Volk› gehörte.
    Er sagte, ich sei gar kein Gott, und schrie: ‹Margon, du Gottloser, du sollst niemals sterben! So haben es die Götter beschlossen. Es wird eine Zeit kommen, da du den Tod erflehen wirst, aber er wird dir nicht gewährt. Egal was du tust und wohin du gehst, du wirst nicht sterben. Selbst unter deinesgleichen wirst du ein Monster sein. Deine Macht wird dich quälen und dir keine Ruhe gönnen. Das soll deine Strafe dafür sein, dass du die Macht an dich gerissen hast, die uns gebührt.›
    Die anderen erschraken und waren verwirrt. Manche wollten den Schamanen schlagen und ihn in seine Hütte zurückjagen, andere bekamen Angst.
    Doch er sagte: ‹Die Götter haben es mir gesagt. Sie lachen dich aus, Margon. Und sie werden dich weiter auslachen, egal wohin du gehst und was du tust.›
    Ich war völlig erschüttert, obwohl mir noch gar nicht richtig klar war, warum. Aber ich verbeugte mich und dankte dem Schamanen für seinen Orakelspruch. Im Grunde tat er mir nur leid. Ich ließ mir nichts anmerken und bereitete weiter meine Abfahrt vor.
    Danach habe ich jahrelang nicht mehr an ihn gedacht, aber irgendwann fiel er mir wieder ein, und seither vergeht kein Jahr, in dem ich nicht an ihn und seine Worte denke.»
    Margon seufzte, bevor er fortfuhr: «Über hundert Jahre später kehrte ich auf die Insel zurück, um zu sehen, wie es meinem Volk, wie ich es immer noch nannte, ergangen war. Es stellte sich heraus, dass es bis zum letzten Mann ausgelöscht worden waren. Stattdessen wurde die Insel von
Homo sapiens sapiens
beherrscht. Die Wilden, die hier vorher gelebt hatten, existierten nur noch in Legenden.»
    Margon
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