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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk
Autoren: Wolfgang Borchert
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einzigen Kinobesuchs zu haben ist, ist für diejenigen bestimmt, die jetzt so alt sein mögen, wie Wolfgang Borchert war, als er zum ersten Mal im Militär-Gefängnis saß», leitete Heinrich Böll sein Nachwort ein. Im Januar 1956 erstmals erschienen, gehört der Band heute mit weit über zweieinhalb Millionen Exemplaren zu den meistverkauften Taschenbüchern in Deutschland und erlebt regelmäßig Neuauflagen. 1961 kam Peter Rühmkorfs Monographie heraus, bis heute die gültige Biographie, 1962 edierte er «Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß»; 1996 erschien unter dem Titel «Allein mit meinem Schatten und dem Mond» eine Briefauswahl, die im Anhang weitere nachgelassene Arbeiten enthielt. Diese und andere, verstreut publizierte oder neu aufgefundene Texte sind in die vorliegende Ausgabe des «Gesamtwerks» aufgenommen worden.
    Borchert war und ist Schullektüre. Die Germanisten wussten wenig mit ihm anzufangen – «Den widerborstigen Schlacks kriegen und kriegen die Literaturwissenschaftler nicht, wie Dürrenmatt gesagt hätte, in eines ihrer Einmachgläser», spottete Rolf Michaelis 2002 in der «Zeit» –, die Schriftsteller wesentlich mehr. Borchert gehört zur literarischen Sozialisation wie Hesse, Brecht und Kafka. Von Rolf Dieter Brinkmann bis Rainer Werner Fassbinder, Bezüge lassen sich oft auch bei Autoren aufspüren, von denen man dies kaum vermutet hätte. «Der Impuls, mit dem Borchert sprach, elektrisierte mich», bekannte Dieter Wellershoff in seiner Autobiographie «Die Arbeit des Lebens». «Hier hatte sich einer aus der Verschüttung freigearbeitet, und damitgrub er auch das Bewußtsein anderer frei.» Wilhelm Genazino, einer anderen Generation zugehörig, erinnert sich: «Ich las Wolfgang Borcherts Heimkehrer-Stück ‹Draußen vor der Tür› und fühlte mich sogleich als betrogener Soldat.» Kaum ein bundesdeutscher Autor, der nicht Borchert in seiner Jugend las – und dann sich wieder von diesem Einfluss befreien musste. «Ich also war achtzehn und auch einer», bekannte Reinhard Baumgart. «Kein Wunder, daß das Wiederlesen von Borchert wie eine Wiederbegegnung mit mir selbst in diesem früheren Zustand war.» Und dass die erneute Lektüre peinliche Gefühle und Erinnerungen an die Verklemmungen der Pubertät auslöste. Jan Philipp Reemtsma ging es nicht anders: Er sei persönlich sehr angetan gewesen, als er «Draußen vor der Tür» im Alter von 15 oder 16 Jahren zum ersten Mal las. «Das Ergebnis meines erneuten Lesens ist katastrophal gewesen. Der Ton des Stückes paßte so genau zu jener pubertären Neigung zum Kitsch in Gefühlen und Gedanken, daß ich mich in diese Gefühls- und Gedankenwelt direkt zurückexpediert fühlte. Unangenehm.» Reemtsma, der das Werk einer rigorosen Stilkritik und einer vernichtenden politischen Analyse unterzieht, kommt zu dem Schluss: «Man tut Borchert leicht unrecht. Entweder über- oder unterschätzt man ihn.» Von beiden Lesarten, bei der frühen und der späten Lektüre, kündet sein eigener Aufsatz.
    Die Wirkungsgeschichte Borcherts ist noch nicht geschrieben worden. Sie reicht bis in die Gegenwart: Benjamin Lebert, der mit 17 Jahren den Bestseller «Crazy» schrieb, zählt Borchert zu seinen Vorbildern. In seinem Roman «Die melodielosen Jahre» . (2007) schildert Peter Weber, wie ein Lehrer mit den gelangweilten Schülern in der Deutschstunde «Schischyphusch» durchnimmt. «Sie lasen eine Strecke, die von Sprachschöpfungen und rhythmischen Doppelungenüberquellen wollte, die Heiterkeit übertrug sich, steigerte sich mit jedem Verstolperer.» Der Text löste Verspannungen, räumte die Gehörgänge frei. «Die Sätze berührten den Sprachnerv. Plötzlich war Deutsch ein Vivarium.» Nicht zu vergessen, dass die DDR zwar Borchert für ihre antimilitaristische Propaganda, sofern sie sich gegen den Westen richtete, zu vereinnahmen versuchte, er für Bürgerrechtler und Dissidenten aber immer ein Bezugspunkt blieb. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs, neun Monate in Haft, bevor er 1977 abgeschoben und ausgebürgert wurde, richtete sich an der Borchert-Lektüre auf: «Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin», diesen Satz machte er zu seinem Leitspruch. Nicht zufällig enthält das Stasi-Drama «Das Leben der Anderen», der mit dem Oscar ausgezeichnete Film von Florian Henckel von Donnersmarck, ein Borchert-Lied: Die Szenen, in denen der oppositionelle Dichter Dreyman seinen Artikel schreibt und den Freunden vorliest,
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