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Das Geisterhaus

Das Geisterhaus

Titel: Das Geisterhaus
Autoren: Isabel Allende
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äußeren Erscheinung ließ vermuten, daß
sie sich von der Stelle bewegen, und erst recht nicht, daß sie sich
in schwindelnde Höhen aufschwingen und die beschneiten
Gipfel der Anden überfliegen würde. Unbewegt lächelnd ließ
Marcos eine Lawine von Fragen über sich ergehen und posierte
für die Fotografen, ohne irgendeine technische oder
wissenschaftliche Erklärung darüber abzugeben, auf welche
Weise er sein Unternehmen durchführen wolle. Sogar aus der
Provinz waren Leute angereist, um das Schauspiel zu sehen.
Vierzig Jahre später grub sein Großneffe Nicolas, den Marcos
nicht mehr kennenlernte, den Trieb zum Fliegen, der allen
seinen Stammesangehörigen innewohnte, wieder aus. Sein
Gedanke war es, die Fliegerei zu kommerziellen Zwecken zu
nutzen, und so bastelte er eine überdimensionale, mit warmer
Luft gefüllte Wurst, auf der ein Werbeslogan für ein
Mineralwasser stand. Aber damals, als Marcos seinen Flug
ankündigte, glaubte noch niemand, daß diese Erfindung von
irgendeinem Nutzen sein könnte. Der für den Start festgesetzte
Tag brach wolkenverhangen an, aber die Erwartung der Leute
war so groß, daß Marcos den Flug nicht verschieben wollte.
Pünktlich erschien er auf dem Paradefeld und schenkte dem
Himmel, der sich mit finsteren Wolken bezog, keinen Blick. Die
staunende Menge stand in allen angrenzenden Straßen, sah von
den Dächern und Baikonen nahe gelegener Häuser herab und
drängte sich auf dem freien Gelände. Keine politische
Kundgebung hatte je so viele Menschen versammeln können,
bis ein halbes Jahrhundert später der erste marxistische Politiker
mit vollkommen demokratischen Mitteln die Präsidentschaft
anstrebte. Clara sollte sich ihr Leben lang an diesen Festtag
erinnern. Dem kalendarischen Beginn der Jahreszeit voraus,
waren die Leute frühlingsmäßig gekleidet, die Männer kamen in
weißem Leinen, die Damen erschienen mit den italienischen
Strohschirmen, die in diesem Jahr Mode waren. Mit ihren
Lehrern kamen Gruppen von Schülern anmarschiert und
überbrachten dem Helden Blumen. Als Marcos sie
entgegennahm, meinte er scherzend, sie sollten lieber warten,
bis er abgestürzt sei, und sie zu seiner Beerdigung mitbringen.
Ohne daß ihn jemand darum gebeten hatte, erschien der Bischof
höchstpersönlich mit zwei Rauchfaßträgern, um den Vogel zu
segnen, und der Gesangverein der Gendarmerie sang lustige,
anspruchslose Lieder im Volksgeschmack. Die Polizei, beritten
und lanzenbewehrt, hatte Mühe, die Menge von der Mitte des
Platzes fernzuhalten. Dort stand Marcos im Monteuranzug, vor
den Augen eine große Rennfahrerbrille, in seiner Pose als
Forschungsreisender. Für den Flug hatte er außerdem einen
Kompaß, ein Fernrohr und ein paar seltsame
Luftschiffahrtskarten, die er nach den Theorien Leonardo da
Vincis und der Landeskenntnis der Inkas selbst gezeichnet hatte.
Wider jede Logik erhob sich der Vogel beim zweiten Versuch
unter dem Ächzen seines Gerippes und dem Dröhnen seines
Motors ohne Zwischenfälle, sogar mit einer gewissen Eleganz.
Flügelschlagend stieg er auf und verlor sich zwischen den
Wolken, verabschiedet von lärmendem Beifallsklatschen,
Pfiffen, geschwenkten Taschentüchern und Fahnen, dem
musikalischen Tusch des Gesangvereins und
Weihwasserspritzern. Auf der Erde zurück blieben die
Kommentare der staunenden Menge und die Erörterungen
erfahrenerer Männer, die dem Wunder eine vernünftige
Erklärung zu geben versuchten. Clara blickte noch lange,
nachdem ihr Onkel unsichtbar geworden war, in den Himmel.
Zehn Minuten später glaubte sie ihn wieder zu sehen, aber es
war nur eine wandernde Möwe. Drei Tage später war die
Euphorie über den ersten Flug im Aeroplan verraucht, und
niemand dachte mehr an die Episode, außer Clara, die
unermüdlich in die Höhe spähte.
    Da man nach einer Woche noch immer ohne jede Nachricht
von dem fliegenden Onkel war, nahm man an, er sei so hoch
geflogen, daß er sich im Sternenraum verirrt habe, und die
Unwissenden verstiegen sich zu der Vermutung, er werde auf
dem Mond landen. Mit einer Mischung aus Traurigkeit und
Erleichterung kam Severo zu dem Schluß, sein Schwager sei mit
seiner Maschine in eine Spalte der Kordilleren gestürzt, wo man
ihn nie mehr finden würde. Nivea weinte trostlos und zündete
dem für verlorene Gegenstände zuständigen heiligen Antonius
ein paar Kerzen an. Der Idee, Messen lesen zu lassen,
widersetzte sich Severo, weil er nicht glaubte, daß man sich
durch dieses
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