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Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)

Titel: Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Autoren: Antoinette Lühmann
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in seiner Hand, wagte aber nicht, sich zu bewegen, solange die Hand des anderen schwer auf seinem Arm ruhte und dessen blasse Augen ihn durchdringend musterten. Das Leinenhemd klebte an seiner Brust, als Sehfeld endlich seinen Arm freigab, um sich die Kapuze wieder über das weiße Haar zu streifen. Die Finger des Hais schlossen sich um den Beutel.
    Die Männer saßen nur wenige Schritte von der Kombüse entfernt und draußen schien die Sonne warm und kräftig auf das Deck der Sparrow . Sehfeld schien in seinem dicken Wintermantel jedoch nicht zu schwitzen. Der Hai zögerte. Zwei Schweißtropfen liefen ihm über die Schläfen. Er wischte sich mit dem Ärmel über die feuchte Stirn und tastete nach dem Messer an seinem Gürtel. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie ein Geschäft abgeschlossen, ohne mit Drohungen oder Beschimpfungen einen höheren Lohn auszuhandeln. Er hatte Diebe versteckt und Mörder an die Nachtwache verraten, doch noch nie hatte er einen Beutel mit Münzen widerspruchslos eingesteckt. Deshalb öffnete er den Mund, aber bevor der Hai etwas sagen oder tun konnte, schüttelte Heinrich Sehfeld langsam den Kopf.
    In dem Moment wurde Gustav ohnmächtig. Seine Stirn schlug krachend auf die Tischplatte. Nach einem kurzen Augenblick des Schreckens beugten sich die anderen über Gustavs Rücken, rüttelten ihn und riefen seinen Namen. Nur Sehfeld beachtete das Geschehen um ihn herum nicht, sondern starrte mit seinen hellen blauen Augen weiterhin unverwandt den Hai an.
    Der nahm seinen Hut und setzte ihn auf. Noch niemals zuvor hatte ihn der Blick eines Mannes geängstigt. Doch in der Nähe von Heinrich Sehfeld würde er keinen Augenblick länger bleiben. Langsam drehte er sich um und griff nach dem Türknauf. Jeden Atemzug rechnete er mit dem Ruf des Mannes, der ihn zurückhalten wollte, oder dem sirrenden Geräusch eines fliegenden Messers hinter sich. Erst als er den Hafen verlassen hatte und durch die engen Gassen eilte, atmete er auf.



Es war draußen fast dunkel, als Nik alle Waren in das Buch eingetragen hatte. Seine Mutter bezahlte unten die Arbeiter, und er zählte ein letztes Mal die Säcke und Kisten, die die Männer an dem Seil hinauf in die Lagerräume gezogen hatte. Nik klappte das große Buch zu und fuhr mit den Fingern über das glatte Leder. Es war weicher als die zerkratzten Bücher, die in der Kiste neben seinem Bett standen und von den Abenteuern der Forscher und Entdecker des letzten Jahrhunderts berichteten. Sein Vater hatte das Warenbuch in feinstes Kalbsleder einschlagen lassen, weil er es jeden Tag viele Stunden in den Händen hielt.
    Nik ging die Treppe hinunter in das Arbeitszimmer und legte das Buch auf den Schreibtisch. Dort saß sein Vater Jan van Leeuwenhoek in einem Sessel am Fenster und starrte nach draußen. Nik trat neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. Der Abend tauchte die Straße in diffuses Licht. Nach und nach flackerten auf dem Wasser der Gracht die Spiegelungen der Laternen auf, die in den Nachbarhäusern entzündet wurden.
    Sein Vater drehte den Kopf zu ihm und sah an Niks Arm hinauf in das Gesicht seines Sohnes. Die Nase des Mannes glänzte rosig und die wässrigen Augen waren von roten Linien durchzogen. Seine dunkelbraunen Haare standen struppig in alle Richtungen ab. Nik lächelte. Er hatte die störrischen krausen Haare seines Vaters geerbt und sah meistens ebenso zerzaust aus wie er.
    »Matthijs?«
    Beim Klang des Namens erstarrte Nik. Seit der Beerdigung waren die Namen seiner Brüder nicht mehr laut ausgesprochen worden. Sein Vater sah ihn erwartungsvoll an. Nik räusperte sich, um ihm zu sagen, wie sehr er die beiden vermisste und was er alles dafür geben würde, damit sie jetzt hier sein könnten. Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Seine Brüder würden nicht zurückkommen. Niemals. Er zog seine zitternde Hand von der Schulter seines Vaters und verbarg sie hinter dem Rücken. Er räusperte sich noch einmal. Dann schüttelte er traurig den Kopf. Es gab nichts, was er sagen oder tun konnte, um den Kummer seines Vaters zu lindern. Er wusste ja nicht einmal, wie er das beklemmende Gefühl in seiner Brust loswerden sollte, das ihn frösteln ließ, sobald er an seine kleinen Brüder dachte. Doch seinem Vater hatte die Trauer um die geliebten Söhne fast den Verstand geraubt. Jeden Tag saß er in dem hohen Sessel hinter seinem Schreibtisch, doch er arbeitete nicht. Meist wusste er nicht, welcher Wochentag war oder welche Stunde. Manchmal
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