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Das Geheimnis des Falken

Titel: Das Geheimnis des Falken
Autoren: Daphne DuMaurier
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Es mußte wohl an dem Champagnertoast auf die Gesundheit des frischgeborenen kleinen ›Barbaren‹ liegen, dessen Existenz ich unbewußt mit der meinigen vermischte, der des schüchternen Beato von einst. Und daran, daß beim Anblick der Frau auf den Kirchenstufen die Vision des Bildes in der Kapelle zu San Cipriano mit unverminderter Gewalt über mich hereingebrochen war, das Bild jener Maria, die beide liebte, Christus und Lazarus, und sich vor dem offenen Grab flehend in die Knie warf.
    Wie immer die Erklärung sein mochte, behaglich war mir nicht zumute. Nach einer Weile schlief ich wieder ein, was mich aber nur neuen Qualen aussetzte. Diesmal verschmolz das Altarbild mit einem anderen Gemälde, das im Palazzo Ducale, im Herzogsschloß hing, wo mein Vater den Posten des Museumsdirektors innehatte, ein hoch geachtetes Amt. Das Porträt war im Schlafzimmer des Herzogs ausgestellt. Es galt allen Kunstliebhabern als ein Meisterwerk und einzig in seiner Art. Ein Schüler Piero della Francescas hatte es zu Beginn des 15. Jahrhunderts gemalt. Es stellte Christi Versuchung dar und zeigte den Herrn hoch oben auf der Zinne des Tempels. Der Künstler hatte den Tempel absichtlich so gemalt, daß er einem der Zwillingstürme des Schlosses ähnelte, die das hervorstechendste Element der gesamten Fassade waren und sich in ihrer großen Schönheit über die Stadt Ruffano erhoben.
    Außerdem hatte der beherzte Künstler die Züge Christi, der aus dem Gemälde heraus über die Hügel schaute, nach dem Bilde Claudios, des wilden Herzogs, gestaltet, den man den Falken nannte und der sich in einem Augenblick des Wahnsinns von der Höhe des Turmes geworfen hatte, weil er glaubte, so ging die Legende, er sei Gottes Sohn.
    Dieses Bild hatte jahrhundertelang in den staubigen Kellern des Palastes gelegen, bis es kurz nach der Ära des Risorgimento, als man das Gebäude weitgehend restaurierte, wiederentdeckt wurde. Seither schmückte oder, wie einige empörte Ruffano-Bürger flüsterten, verschandelte es das herzogliche Gemach. Wie von dem Altarbild in San Cipriano fühlte ich mich auch von diesem Gemälde gleichzeitig bezaubert und abgestoßen, was meinem Bruder Aldo wohlbewußt war. Er pflegte mich zu zwingen, ohne Wissen unseres Vaters die gefährlich gewundene Turmtreppe mit ihm hinaufzuklimmen. Dann stieß er die uralte Tür auf, die zur Spitze des Turmes führte, und hob mich in einer scheinbar übermenschlichen Kraftanstrengung auf die Balustrade, die um den Aufsatz herumlief.
    »Hier war es. Hier hat der Falke gestanden«, sagte er. »Hier hat ihn der Teufel versucht. Bist du Gottes Sohn, so lass dich von hinnen hinunter; denn es steht geschrieben: Er wird befehlen seinen Engeln von dir, daß sie dich bewahren und auf Händen tragen, auf daß du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stoßest.«
    Tief unter uns lag die Stadt Ruffano. Fern auf der Piazza di Mercato wimmelten die Menschen und die Fahrzeuge und jagten ihren Geschäften nach, wie Ameisen, die über eine staubige Fläche hasten. Ich klammerte mich zitternd an die Balustrade. Wie alt ich damals eigentlich war, weiß ich nicht mehr. Sechs oder sieben vielleicht.
    »Soll ich dir erzählen, was der Falke tat?« fragte Aldo.
    »Nein«, flehte ich, »nein …«
    »Er breitete seine Arme aus«, sagte Aldo, »und er flog. Seine Arme waren zu Flügeln geworden. Er hatte sich in einen Vogel verwandelt. Er schwebte hinweg über die Dächer der Stadt, die sein eigen war, und staunend und bewundernd schaute das Volk zu ihm auf.«
    »Es ist nicht wahr«, schrie ich, »er konnte nicht fliegen. Er war ein Mensch und fiel. Er fiel hinab und starb. Vater hat es mir gesagt.«
    »Er war ein Falke«, beharrte Aldo, »er war ein Falke, und er flog.«
    Im Traum rollte die Schreckenszene aus meiner Erinnerung ein zweites Mal vor mir ab: ich, an die Balustrade geklammert, Aldo hinter mir. Dann aber warf ich mich mit einer Kraft, die ich als Kind gar nicht aufgebracht hätte, nach rückwärts, entrang mich seinem Griff und lief und lief, die enge Wendeltreppe hinunter, bis zu Marta, die wartete und nach mir rief: »Beo, Beo …« Und da waren ihre Arme, weitgeöffnet, um mich aufzufangen. Und sie wickelte mich ganz ein, hielt mich fest, beschwichtigte und tröstete mich; Marta, liebe Marta. Was aber hatte in einem Traum der Geruch von alten, abgetragenen Kleidern zu suchen – und von Wein?
    Als ich diesmal erwachte, fühlte ich mein Herz hämmern, und ich war in Schweiß gebadet. Der
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