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Das Geheimnis der Totenmagd

Das Geheimnis der Totenmagd

Titel: Das Geheimnis der Totenmagd
Autoren: Ursula Neeb
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dem Boden ab. Er tastete in dem Holzstapel neben dem erkalteten Ofen nach einem Kienspan und trat erneut nach draußen zur Totenleuchte. Die Hände schützend darübergebreitet, hielt er das Holzstück in die Flamme, bis es Feuer gefangen hatte, trug es in der hohlen Hand zurück in seine Kammer und entzündete damit eine Talgkerze auf dem Wandbord. Mit zitternden Händen goss er sich Wein in einen Trinkbecher und leerte ihn in einem Zug.
    Nachdem er den Becher abgesetzt hatte, zog er den Mantel wieder eng um den mageren Körper und begab sich erneut hinaus, um zum nahe gelegenen Friedhofsportal an der Schäfergasse zu laufen. Knirschend drehte sich der große Bartschlüssel im Schloss, als der Totengräber das Tor für seinen bald erwarteten Besuch aufschloss.
    Nachdem er in die stickige, feuchtkalte Stube zurückgekehrt war, entledigte er sich schlotternd seiner nassen Kleidung, rückte einen Schemel an den Tisch und genehmigte sich noch einen Schoppen.
    Wenig später klopfte es an der Tür, und ein beleibter Mann betrat die Stube, dicht gefolgt von einem schwarzweißen Hund, der ebenso vor Nässe troff wie sein Herr.
    »Gott zum Gruße, Ruprecht«, sagte Sahl mit heiserer Stimme.
    »Grüß dich, Heinrich«, erwiderte der Besucher und nickte dem Totengräber zu. »Was für eine unwirtliche Nacht.« Während der Hund den Totengräber freundlich anwedelte, entledigte sich der Mann seiner Lanze und einer Pechfackel, die der Regen zum Erlöschen gebracht hatte, legte den durchnässten Umhang ab, stellte eine Steingutflasche auf den Tisch und setzte sich.
    Der städtische Nachtwächter Ruprecht Bacher war Heinrich Sahls einziger Freund. Seit über zwanzig Jahren verband die beiden fast gleichaltrigen Männer, die innerhalb der städtischen Ordnung ganz unten standen, eine alte Kameradschaft. Bachers Eheschließung mit Sahls jüngster Tochter Katharina vor fünf Jahren hatte dazu beigetragen, dass sich die so zurückhaltenden Männer noch näher gekommen waren.
    Heinrich Sahl blickte in das bekümmerte Gesicht seines Schwiegersohns und dachte sich sein Teil. Er wusste gut genug, dass der Nachtwächter in der Ehe mit Katharina häufig unglücklich war.
    »Und, wie geht’s bei euch daheim?«, fragte er vorsichtig.
    »Wie soll’s schon gehen?«, brummte Ruprecht. »Ehrlich gesagt: beschissen!«
    »Du kannst einem leidtun, Rupp. Komm, lass uns einen trinken.« Sahl klopfte dem Freund ermutigend auf die Schulter und füllte zwei Trinkbecher mit einem ordentlichen Quantum Branntwein, den die Männer schweigend hinunterkippten. Der Totengräber wusste, dass es einiges brauchte, um die Zunge des schweigsamen, in sich gekehrten Ruprecht ein wenig zu lockern. Auch wenn es dann eher gestammelte Andeutungen waren, die er von sich gab, als ausführliche Schilderungen. Einmal hatte Ruprecht sogar geweint.
    »Ich kann ihr ja nichts vorwerfen«, stieß der Nachtwächter nach einer Weile des Schweigens hervor. »Sie versorgt den Haushalt tadellos und ist mir gegenüber immer anständig. Hat mir auch noch niemals Hörner aufgesetzt, obwohl sie an jedem Finger zehn Galane haben könnte, so liebreizend wie sie ist. Sie liebt mich halt nicht. Was kann man da machen?« In Ruprechts vom Alkohol geröteten Augen glitzerten Tränen.
    Heinrich Sahl, dem nicht viel einfiel, was er hätte erwidern können, grummelte nur: »Arme Haut!«
    Wie so häufig plagten ihn dabei nagende Schuldgefühle. Die Ehe der beiden war seine Idee gewesen. Er hatte damals nur das Beste gewollt für seinen Freund und für seine Tochter, und als ihm Katharina offen gesagt hatte, dass sie für den Mann, der ihr Vater hätte sein können, nichts empfinde, hatte er entgegnet, dass die meisten Ehen weniger auf Liebe gründeten als auf gegenseitigen Respekt. Damit war das Thema für ihn erledigt gewesen. Wie hätte er denn ahnen können, dass seine pragmatische Entscheidung zwei Menschen, die ihm am Herzen lagen, ins Unglück stürzen würde?
    Ruprecht, der dazu neigte, seinen Kummer in sich hineinzufressen, war in den letzten Jahren ebenfalls zum Trinker geworden. Zwar hatte er auch früher schon bei seinen nächtlichen Wachgängen immer eine Branntweinflasche dabeigehabt, um die Einsamkeit und Ödnis der endlos langen Nächte besser ertragen zu können, aber inzwischen betrank er sich jede Nacht, und oft tat er dies mit Heinrich Sahl gemeinsam. Und Katharina, die schon immer der Augenstern ihres Vaters war, hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie an der Seite des
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