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Das Geheimnis der Totenmagd

Das Geheimnis der Totenmagd

Titel: Das Geheimnis der Totenmagd
Autoren: Ursula Neeb
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korpulenten, kahlköpfigen Nachtwächters nicht glücklich war. Immer wieder musste Sahl sich eingestehen, dass sein Sonnenschein eigentlich etwas Besseres verdient hatte. Doch er hütete sich, dies auszusprechen.
    Der Totengräber schenkte dem Schwiegersohn von dem säuerlichen Wein ein und legte ein paar Wecken und Würste auf den Tisch.
    »Iss nur, Rupp, das ist von dem Leichenschmaus geblieben, den die Huren am Freitag abgehalten haben«, forderte er seinen Gast auf, ohne sich selber etwas von den Speisen zu nehmen.
    Es war ein alter Brauch, die Überbleibsel des Leichenschmauses, der zu Ehren des Verstorbenen nach dessen Beisetzung begangen wurde, dem Totengräber zu bringen, und die Hurenkönigin hatte sich nicht lumpen lassen. Sie hatte dem alten Friedhofswärter ein paar fette Leber- und Blutwürste überlassen, bei deren Anblick dem Nachtwächter, erst recht aber seinem Hund förmlich das Wasser im Munde zusammenlief. Der Totengräber, dem die großen flehenden Augen des Tieres und sein erregtes Schnüffeln nicht entgangen waren, ergriff schließlich das Ende einer Wurst und warf es mit gutmütigem Lächeln dem Hund vor, der es mit einem Biss gierig hinunterschlang und kräftig mit dem Schwanz wedelte.
    »Das ist vielleicht ein Sauwetter heute«, brummte der Nachtwächter zwischen zwei Bissen.
    »Und, haste wenigstens nen Geist gesehen?«, fragte Sahl und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
    »Dafür bist du doch zuständig«, gab Bacher zurück. »Ich hab nur ein paar arme Gesellen getroffen, die Kutten trugen. Bettelmönche oder dergleichen. Hab sie ins Pilgerhospiz geschickt.«
    Nachdem die Männer schweigend noch ein paar Becher geleert hatten, erhob sich der Nachtwächter ächzend, um sich wieder an die Arbeit zu machen. Pünktlich zur neunten Stunde musste er von der Balustrade des Rathauses auf dem Römerberg die Zeit verkünden. Dazu brauchte er jedoch nicht nüchtern zu sein, denn die Verse, die er aussang, kannte er in- und auswendig.
    Ruprecht Bacher stellte erleichtert fest, dass der Regen nachgelassen hatte, entzündete seine Pechfackel an der Totenleuchte und schlurfte leicht wankend zur Friedhofspforte. Plötzlich hörte er in der Nähe ein Geräusch. Im flackernden Licht der Fackel kam es ihm vor, als huschten dunkle Schatten über den Kirchhof. Auch der Hund schien etwas wahrgenommen zu haben, er knurrte drohend. Ein Schauder überlief den Nachtwächter. So schnell er konnte, eilte er zur Friedhofspforte und stürzte hinaus auf die Schäfergasse.
    Sein Atem ging schnell, doch einige Schritte später schon hatte er sich gefasst. Ein Hirngespinst, weiter nichts. Nicht ungewöhnlich in so einer unheimlichen Nacht. Ruprecht besann sich auf seine Pflicht, zog seinen Mantel enger und beschloss, dass die Gestalten auf dem Kirchhof nur ein Trugbild durch Schnaps und Wein gewesen waren.
    Zielstrebig eilte er zum Römerrathaus und erklomm die Stufen zur Balustrade, um von dort die neunte Stunde anzusingen. Seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren wiederholte er Nacht für Nacht seine Verse, Stunde für Stunde, von Sonnenuntergang, wenn die Stadttore geschlossen wurden, bis Sonnenaufgang, wenn die Torwächter sie wieder öffneten. Für jede Uhrzeit gab es einen eigenen Stundenruf. Je weiter die Nacht voranschritt, desto länger wurden die Verse und umso eindringlicher die Bitte um Schutz vor den Mächten der Finsternis. Von allen Versen war ihm das Tagansingen der liebste: »Der Tag vertreibt die finstre Nacht, auf, auf, ihr braven Leut’, erwacht!« Während die Menschen der Stadt aufstanden und sich an ihr Tagwerk machten, konnte er endlich seinen Dienst beenden und sich zu Bett begeben.
    Nach dem Verkünden der neunten Stunde verließ der Nachtwächter den Rathausbalkon und drehte seine vorgeschriebenen Runden durch die schlafende Stadt. Eigentlich fürchtete sich Ruprecht schon lange nicht mehr vor der Dunkelheit. Als er allerdings in dieser Nacht durch die menschenleeren Gassen schritt, an der Stadtmauer entlang, während die Herbststürme an den Türmen rüttelten und irgendwo in der Ferne ein Käuzchen anschlug, musste er an die armen Seelen denken. Er vermeinte, ihr Wehklagen zu hören, spürte die Furcht vor bösen Geistern und Nachtdämonen wie ein törichter alter Mann und sehnte sich unsagbar danach, in den Armen seiner Frau zu liegen.
    *
    Müde und betrunken, wollte sich Heinrich Sahl um die zehnte Stunde herum allmählich schlafen legen, als er auf einmal einen sonderbaren Gesang
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