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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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daran, oder?«
    Ein kurzer Blick, ein Kichern, ein leichter Druck der Hand. »Ach
ja, das Mädchen … Ich weiß noch, wie du es mir beschrieben hast.«
    »Und du hast mir einfach nicht geantwortet.«
    »Was hätte ich auch antworten sollen? Ich weiß nicht, wen oder was
du gesehen hast. Aber ich weiß, dass du an diesem schlimmen Morgen dem Überfall
entronnen bist, und das ist es, was für mich zählt. Zwischen Himmel und Erde
gibt es eben Dinge, für die wir nicht immer eine Erklärung haben.« Sie lachte
in sich hinein und fügte hinzu: »Denk nur mal an die Krähen. Seitdem du
verschwunden warst, habe ich auch sie nicht mehr hier gesehen. Obwohl sie sonst
immer auf meiner Hütte hockten. Und dann heute Morgen, ganz früh, als ich
aufstand, um in den Wald zu gehen und Beeren und Kräuter zu sammeln – da
saßen sie auf einem Baum in der Nähe des Hofes. Ausgerechnet heute. Glaub es
mir, oder glaub es mir nicht.«
    Jetzt meldete sich Anselmo das erste Mal zu Wort. »Ich habe oft
gehört, dass Menschen Angst vor Krähen haben und dass sie ihnen alle möglichen
bösen Dinge zutrauen.«
    »Ich traue ihnen auch allerlei zu«, erwiderte die Krähenfrau.
»Aber dass sie böse sind, das bezweifle ich. Robert von Falkenberg, mein Mann
und dein Vater, Bernina, hat immer gesagt, dass mancher, der gestorben ist, als
Krähe wiedergeboren wird. Wer weiß, mein Kind, vielleicht hat dein Vater die
ganze Zeit über ein Auge auf uns.«
    »Und wie ging es weiter?«, fragte Bernina, die so erleichtert war,
ihre in all den Jahren aufgestaute Neugier endlich stillen zu können. »Nach
deiner Flucht? Hast du Robert gefunden? Ich nehme doch an, er hat sich hierher
zurückgezogen, oder? Hierher, auf den Hof.«
    »Ja, Bernina. Wir drei kamen wieder zusammen, er und du und ich.
Du bist natürlich niemals von einer Magd auf den Hof gebracht worden, die dann
verstarb. Du lebtest hier mit deinen Eltern, denn hier hielt Robert von
Falkenberg sich versteckt. Es war sein Hof. Ihm war klar, dass sein Bruder ihn
suchte. Thadeus tauchte sogar hin und wieder auf dem Petersthal-Hof auf.
Wolfram Vogt allerdings war in alles eingeweiht. Er wusste, was er Thadeus zu
sagen hatte und spielte auch für die Leute in den Dörfern ringsum den
Hofbesitzer.« Der Blick der Krähenfrau verfinsterte sich. »Dann jedoch wurde
Robert krank. Ganz plötzlich. Ein Arzt aus Teichdorf versuchte ihm zu helfen.
Umsonst. Auch ich versuchte das. Ich rief die Dämonen der Nacht an, ich mischte
heilende Tränke zusammen. Nichts konnte die Krankheit aufhalten. Robert lag nur
noch im Bett. Er malte nicht einmal mehr. Dafür hatte er die Arbeit an der
Familienchronik wieder aufgenommen.«
    »All das beschriebene Papier, das ich in der Truhe fand. Ich nahm
es an mich.«
    »Da ist alles über die Falkenbergs festgehalten, Bernina. Es ist
das Vermächtnis unserer Familie, das Vermächtnis deines Vaters. Er beendete die
Chronik und starb noch am selben Tag. Und die Chronik gehört nun dir.«
    »Mein Gott«, flüsterte Bernina. Ihre Gedanken rasten. Es war gut,
endlich mehr zu erfahren – und dennoch nicht leicht, alles zu verkraften,
alles in sich aufzunehmen.
    Als es dunkler wurde, machte Anselmo am Tisch in aller Stille eine
kleine kalte Mahlzeit aus den Resten ihres Proviants zurecht. Er wollte, dass
sich die beiden Frauen weiter unterhalten konnten, war ihm doch bewusst, wie
wichtig dieses Gespräch für Bernina war.
    Während sie aßen, versuchte Bernina die nächsten Fragen zu
stellen, die in ihr brannten. »Was ich einfach nicht verstehe«, begann sie.
»Wie kam es, dass du …« Sie überlegte, welche Worte nun die richtigen
waren, doch Cornix kam ihr zuvor.
    »Du meinst, wie es kam, dass ich die Krähenfrau wurde? Und du nach
Roberts Tod auf dem Hof geblieben bist, ich aber nicht?«
    Bernina nickte stumm, froh darüber, dass ihr die Fragen abgenommen
wurden.
    »Es war so, dass wir zunächst beide auf dem Hof blieben, du und
ich. Die ganze Familie Vogt mochte uns. Vor allem dich. Du warst der Liebling
aller. Sie hatten eine Tochter in deinem Alter.«
    »Hildegard«, sagte Bernina traurig.
    »Die einzige Schwierigkeit war, dass die Vogts mitbekommen hatten,
auf welche Art ich versuchte, deinem Vater zu helfen. Meine gesprochenen
Heil-Formeln, meine Heiltränke, die ich nachts über einem Feuer zubereitete.
Das alles hatte sie mächtig erschreckt. Knechte und Mägde erzählten davon in
den Dörfern. Mit jedem Mund, der die Nachrichten weitergab, wurden sie größer
und
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