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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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zerstört war. Weil sich
niemand sonst hier aufhielt, weil seit dem Überfall kein Mensch mehr hier war.«
    »Was geschah?«
    »Niemals wieder hatte ich in seine Augen sehen wollen. Aber da war
er, bloß ein paar Schritte von mir entfernt. Ich hatte Angst, er würde mich
entdecken. Dann hätte er mich gewiss getötet. Er wusste ja nicht einmal, dass
ich überhaupt noch am Leben war.« Sie schüttelte den Kopf und legte ein Scheit
nach. »Also verschwand ich für eine Weile. Ich zog durch die Dörfer, so wie früher.
Dann kehrte ich in der Hoffnung zurück, er wäre nicht mehr da. Oder einfach
gestorben. Vorsichtig näherte ich mich dem Hof. Ich sah ihn nicht durch das
Fenster in diesem Raum hier, auch sonst nirgendwo. Ich wartete ab. Und als ich
da in einem Versteck hockte, was meint ihr wohl, wen ich da entdeckte?« Ein
Kichern. »Mein Herz hüpfte, als ich dich erblickte, Bernina. Dich und diesen
jungen Mann hier. So sehr hatte ich darauf gehofft, dass du noch einmal
zurückkommen würdest. Geglaubt allerdings hatte ich es nie. Ich wollte sofort
zu euch laufen, doch ich war wie erstarrt. Ich traute mich nicht.«
    »Aber weshalb nicht?«
    »Ich fürchtete, du würdest sofort wieder aufbrechen, wenn ich mich
zu erkennen gäbe, Bernina. Ich dachte, du wolltest bloß den Hof sehen, an die
schönen Jahre vor dem Überfall denken. Nicht an die kurze Zeit in meiner
kleinen muffigen Hütte.«
    Bernina wollte etwas sagen, doch die Krähenfrau sprach bereits
weiter: »Aber auf einmal entdeckte ich ihn. Es war kälter geworden in den
letzten Tagen, und deshalb hatte er Brennholz gesammelt. Als ich sah, dass auch
er hineinging, war ich erst recht wie erstarrt. Jedoch nicht lange. Ich hatte
eine solche Angst um euch beide und so lief ich los, leise, aber so schnell ich
nur konnte.« Sie atmete tief durch. »Dann wieder ganz langsam ging ich in
dieses Zimmer, wo er sich schon am ersten Tag die ganze Zeit aufgehalten hatte.
Das Zimmer war allerdings leer. Ich konnte mir denken, wo ihr wart. Aber bevor
ich nach oben ging, sah ich seinen Degen, den er neben der Schlafstelle
abgelegt hatte.« Ihre Stimme wurde ganz leise. »Und ich nahm ihn an mich.«
    Stille lag in der Luft, eine tiefe Stille, die nur vom leisen
Knistern des Kaminfeuers gestört wurde und so lange anhielt, bis Bernina die
Frage in den Raum warf, die sie schon zuvor hatte stellen wollen, gleich
nachdem Thadeus von Falkenberg tot zusammengebrochen war: »Warum hast du es mir
nie gesagt? Warum, Cornix?«
    Erneut erwiderte die Krähenfrau nicht ihren Blick. »Was meinst
du?«
    »Cornix, du weißt, was ich meine. Warum hast du mir nie gesagt,
dass du meine Mutter bist?«
    Die Krähenfrau verkroch sich noch tiefer in ihren Umhängen.
    »Sag es mir, bitte.«
    Als Bernina bereits nicht mehr auf eine Antwort hoffte, ertönte
die leise Stimme: »Ich wollte, aber …« Ein ebenso leises Aufseufzen. »Na
ja, wohl nicht gleich am Anfang. Aber später, als wir uns so gut verstanden, da
wollte ich dir die Wahrheit sagen. Doch ich schaffte es einfach nicht. Ich
schämte mich. Du weißt nicht, wie ich mich fühlte. Ich schämte mich so sehr.«
    Bernina rückte von Anselmo weg, näher zu Cornix, um den Arm sanft
um sie zu legen. »Um Himmels willen, weshalb denn?«
    »Das fragst du noch. Ich schämte mich für mich. Für die Frau, die
ich bin. Wer will denn eine solche Mutter haben?«
    »Wie kannst du so etwas sagen? Du bist meine Mutter. Ich habe mich
so sehr nach meiner Mutter gesehnt.«
    »Das weiß ich, mein Kind. Und deswegen ist ja alles so
schmerzlich. Aber dir ist doch klar, dass ich nicht wie andere Frauen bin. Das
war ich noch nie.« Ihre Stimme gewann auf einmal an Festigkeit. Die Worte
strömten schneller aus ihr hervor. »Früher war ich sogar eine schöne Frau, eine
gebildete Frau aus einer angesehenen Familie, die die Blicke der Männer auf
sich zog. Selbst damals jedoch gab es sie schon, die Geister und Dämonen, mit
denen ich mich nachts unterhielt. Ich habe nie etwas Böses gemacht. Ich bin
deshalb auch kein schlechterer Mensch, aber diese andere Welt, die Welt, die
man nicht sehen kann, die gehört eben zu mir. Und dennoch war da eine Zeit, in
der wünschte auch ich mir ein gewöhnliches Leben … Ja, ich muss dir wohl
endlich davon erzählen, Bernina.«
    »Genau deswegen bin ich zurückgekehrt«, versicherte Bernina und
drückte ihre Mutter fester an sich.
    »Stell dir vor, Bernina, ich verliebte mich. Viele Männer hätten
mich gern zur Frau genommen. Gute
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