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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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verlieren.
    Die Gefahr der Beschmutzung, des Ekels, den die Prostitution auslöst, konnte sie bei einem jungen Mann wie Louis nicht in Kauf nehmen. Er würde nicht verstehen, dass sie sich in den letzten zwei Jahren derart kompromittiert hatte. Nur ein »reifer« Mann kann in Erwägung ziehen, eine junge Frau aus dieser Situation herauszuholen, sogar mit einem gewissen Vergnügen, mit der erbärmlichen Freude, den anderen Männern etwas wegzunehmen. Einem jungen Mann stehen hingegen so viele frische und reine Frauen zur Verfügung, dass er nicht länger mit ihr verkehren würde.
    Dieser Brief würde Annie noch tiefer in ihrer Verzweiflung versinken lassen. Sie würde nicht auf mich kommen, und die Lüge, die ich ihr soeben präsentiert hatte, war zu ungeheuerlich, als dass sie nicht daran hätte glauben können. Erpresserbriefe waren in dieser Zeit so verbreitet, dass jeder der Verfasser sein konnte. Ein ehemaliger Kunde. Eine eifersüchtige Kollegin. Eine verlassene Freundin von Louis. Die Rache war nicht allein mir vorbehalten.
    Ein einziger Streit hätte vielleicht ausgereicht, um mit Louis alles zu klären. Vielleicht nicht einmal ein Streit, nur ein Gespräch. Aber sie hatte gerade von einer Katastrophe erfahren, sie konnte nur noch an Katastrophe denken. Louise war tot, und wenn Louis erfuhr, dass sie eine Prostituierte
war, würde er nie mehr etwas von ihr wissen wollen, das muss sie sich überlegt haben.
    Ich wollte sie aus allen Richtungen angreifen, sie ersticken. Durch die Menschen, die sie liebte. Ihre strahlende Zukunft zerstören, genau in dem Moment, wo sie sich ihr noch nie so nah gefühlt hatte. Ich wusste, wie sehr dieser Umstand den Ausbruch einer Tragödie befördern, jede Vernunft ausschalten würde. Wie bei einem Kind, dem man brutal den Puppenwagen, die Puppe wegnimmt, die man ihm gerade geschenkt hat. Die Wut. Das Geschrei. Der Weltuntergang. Louise. Louis. Alles brach gleichzeitig zusammen.
    Was dann kam, hat sie selbst erledigt, ganz allein. Sie hat ihr Zimmer verlassen, sich aufs Fahrrad geschwungen, ist nach N. gefahren und hat sich in den Teich gestürzt.
    Ich erfuhr es erst am nächsten Morgen, als Jacques mich von L’Escalier anrief, um mir zu sagen, dass Annie sich ertränkt habe. Man habe ihre Leiche gefunden.
    Ich weiß nicht, wer ihm das erzählt hat, hat man doch die Leiche nie gefunden. Die Gerüchte aus dem Dorf sind unergründlich. Wie früher, wenn ich mit Camille Stille Post gespielt habe, weiß man nie genau, wer die Wahrheit entstellt.

    Ich hatte diesen Mord wirklich nicht beabsichtigt . Ich musste nur einen Weg finden, sie endgültig zu entfernen, ganz schnell. Ich war aufs Ganze gegangen. Ich kannte sie so gut. Ich musste sie in die Enge treiben. Die geringsten Regungen ihrer Seele erraten, durch die sie ins Straucheln geraten, umfallen würde. Alle Fakten zusammentragen, anhäufen, um sie zu brechen. Sie zur Verzweiflung bringen, mit dem Schlimmsten, dem Undenkbaren, damit sie keinen
anderen Ausweg sieht als den Tod. Die psychologische Manipulation ist eine Waffe wie jede andere, nicht mehr und nicht weniger zuverlässig, aber die einzige , die das perfekte Verbrechen ermöglicht. So perfekt, dass sogar ich selbst beinahe davon überzeugt war, nicht für ihren Tod verantwortlich zu sein. Letztendlich hatte ich vielleicht recht.
    Die Bedenken kamen erst später, wie im Krieg, als würde das Gefühl der Dringlichkeit alles andere zurückdrängen und nur Raum für die nüchterne und effiziente Entscheidung, das konkrete Handeln lassen. Die Bedenken kamen mit der Zeit, dem Abstand, der Ruhe und den Spiegeln, in denen ich mich betrachte wie jede Frau, aber nicht aus den gleichen Gründen. Oft suche ich in meinem Gesicht nach Spuren, noch immer fassungslos über mein Handeln, wo ich doch früher nicht die kleinste Lüge über die Lippen brachte. Unter ganz bestimmten Umständen offenbart sich eine Facette des Charakters, die sofort wieder verschwindet, sobald sich die Umstände ändern.
    Wenn ich von »Bedenken« spreche, meine ich nur das, nicht mehr. Ich habe niemals Gewissensbisse oder Schuldgefühle gehabt. Ich denke noch immer, dass Paul und Annie mich dazu getrieben haben, zu tun, was ich getan habe. Ich war immer der Ansicht, dass Verrat einen zu allem berechtigt.
    Ich habe Paul nie erzählt, dass Annie Selbstmord verübt hat. Er hätte glauben wollen, dass es seinetwegen geschehen sei, und ihre Geschichte wäre ewig, wunderbar, märchenhaft geblieben. Wie auch sein
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