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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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kompromittierende Briefe auswendig lernte, ehe ich sie vernichtete. Als ich nachts auf meinen Filzsohlen die Adresse jener aufsuchte, für die die Briefe bestimmt waren, um ihr den Text aufzusagen …
    Louis

Ich faltete das Blatt zusammen. Ich ließ die Autotür zufallen und ging auf die Kirche zu.
    Ich hatte sie mir größer vorgestellt. Sie war lang, schmal und niedrig. Ganz aus Holz, wie eine Blockhütte, nur der Kirchturm mit Schiefer bedeckt. Sie war nicht beeindruckend, aber schön.
    Ich ging zur Tür.
    Musik drang aus dem Innern, ich wäre lieber allein gewesen. Auf der Schwelle empfing mich ein unendlich sanftes Licht. Die leeren Bankreihen beruhigten mich. Ich trat ein. Ein schlichtes Holzviereck, ein Altar, ein Chor, keine Seitenschiffe, keine Empore. Unter einem bunten Fenster die Statue des Heiligen Rochus in Gesellschaft des Hundes, der den Mantelzipfel des Heiligen hebt, um seine Wunde zu zeigen. Im Weihbecken war Wasser. Kaltes Wasser. Ich ließ die Finger etwas länger an der Stirn, ehe ich irgendwie das Kreuzzeichen vollendete.

    Vor mir, neben dem Altar, spielte ein Mann Orgel. Ich sah ihn von hinten, ein Priester. Er trug keine Soutane, aber der weiße Kragen ließ keinen Zweifel, ebenso wenig wie seine, wie ich fand, zutiefst religiöse Spielweise.
    Ich machte ein paar Schritte in seine Richtung, dann hielt ich inne. Ich sah, wie die Finger des Mannes über die Tasten glitten, sah seinen langen Nacken, sein dichtes graues Haar.
    In dieser Sekunde habe ich ihn erkannt.

    Und auch diesen Geruch nach Holz und Weihrauch, den die Briefe verströmten, ohne dass ich ihn benennen konnte. Dann sah ich die »Beichtuhrzeiten«, handgeschrieben auf einem Blatt Papier, das an der schweren Holztür hing. Ich sah das »R« inmitten der Kleinbuchstaben, sah die Schrift, die mein Leben aus der Bahn geworfen hatte.
    Er war es, Louis.
    Seine Finger erstarrten plötzlich über den Tasten, die Musik verstummte. Hatte er gespürt, dass jemand ihn ansah? Ich ging hinaus. Hatte er sich umgedreht? Ich startete den Motor.

    Louis hatte so viel Sorge darauf verwandt, dass ich ihn nicht fand. Ich würde mich seinem Willen nicht widersetzen, nicht jetzt, da ich alles wusste.
    »Alles war an seinem Platz«, hatte er Jahre zuvor gesagt, als er sich in eben dieser Kirche in Annie verliebte. Auch sie hatte er nur von hinten gesehen. Louis verdiente es, dass man ihn in Frieden ließ. Als ihm Maman ihr Geständnis aufdrängte, hatte sie ihn gezwungen, wieder in seine Erinnerungen einzutauchen. Ich würde sie nicht noch einmal beleben, indem ich mich ihm vorstellte. Ich würde ihm nicht eine mögliche Ähnlichkeit mit der Frau aufdrängen, die er so sehr geliebt hatte.

    Ich sah im Rückspiegel, wie sich die Kirche entfernte, in der meine Mutter ihr Gewissen erleichtert, einen Boten gesucht hatte. Das Heft lag aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz. Louis’ Schrift und Mamans Worte. Erbarmungslos. Ich spürte das Lenkrad an meinem Bauch, an meinem Kind. Meine Mutter hatte für mich getötet, sie hatte sich für mein Kind getötet.

    Sie lief langsam, niedergeschlagen, aber sehr aufrecht, als wisse sie, wohin sie ging. Sie wusste, was sie tun würde ...
    Maman wusste, dass sie in der Kurve beschleunigen und nicht bremsen würde. Wahrscheinlich war es die Kurve, in der ihre Eltern gestorben waren, denn die Straße, auf der sich der Unfall ereignet hatte, war keine ihrer üblichen Strecken. Am Ende hatte Maman das Gleiche gemacht wie Papa. Wie viele Menschen nehmen sich in »Unfällen« das Leben, um ihren Nächsten die Schuldgefühle zu ersparen?

    Ich fuhr die Straße am See entlang, das Wasser erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Ich dachte unaufhörlich an Annies Körper, der irgendwo da unten ruhte. Tränen liefen mir über die Wangen, ich hielt an. Ich las das Heft noch einmal durch, jeder Satz erstickte mich. Pierre, mein Bruder, du wirst weiter behaupten, dass ich Mamans Liebling bin. Wenn du wüsstest, wie gern ich ihre Tochter gewesen wäre …
    Der See funkelte im Sonnenlicht. Plötzlich schob sich eine dunkle Wolke über die Oberfläche. Ich sah von dem Heft auf. War es die Dame des Sees, die Annie auf den Armen trug, um sie mir zurückzubringen? Nein, Kraniche. Tausende, als hätten sich alle Orakel des Universums über meinem Kopf versammelt. Sie schwebten durch die Luft, ich bewunderte ihre majestätische Choreographie. Ich war auch ein Zugvogel, man hatte mir meine Mutter genommen. Maman, warum hast du mich nicht
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