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Das Fünfte Geheimnis

Titel: Das Fünfte Geheimnis
Autoren: Starhawk
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ist zuviel, ich kann nicht mehr.
    „Fünf...“
    Feuer, alles brennt, abuela, meine Seele verbrennt, verzeih mir, vergib mir.
    „Vier...“
    Wasser, Wasser, wird es denn nie mehr regnen?
    „Drei...“
    Die Erde, die Erde, sie ist hart wie Stein. Wenn sie aufbricht, entstehen Akkorde, Madrone zu begleiten, wenn sie singt, ein Lied, das sie nie mehr singen wird. Ich drehe mich, ich falle, wo ist denn die Erde geblieben?
    „Zwei...“
    Im Geist hörte er das Lied, es gab ihm das Gefühl ihrer Nähe, brachte die Momente des Liebeglücks wieder zurück, eine Erinnerung, die ihn schrecklich schmerzte, denn er war nicht mehr, der er damals gewesen war. Auch sie konnte ihn nie mehr heilen.
    „Eins...“
    Abuelita, dies ist ein Geschenk von mir an dich. Ich schenke es dir. Ist es nicht so? Oh, wenn nur mein Kopf nicht so schwer wäre.
    „Fertig!“
    Aber er war nicht fertig, er würde nie fertig sein.
    „Anlegen!“
    Mein Ziel ist, dich zu beschützen, abuelita, du sollst nicht erleiden, was ich erlitten habe.
    „Feuer!“
    Eine Biene landete auf Birds Stirn. Sie stach ihn zwischen die Augen. Bird schrie leise auf. Ein goldener Schmerz durchzuckte ihn und schoß durch seinen Körper, wie ein warmer Sonnenstrahl, der plötzlich durch den Nebel bricht. Hunderte Mayas verschwammen vor seinen Augen. Bienen schwärmten über seine Hände, stachen zu, und Bird fühlte sich glücklich: Sie hatten ihn also nicht verlassen, nicht vergessen. Nicht, daß er Mitleid verdient hätte. Er sah die Bienen vor sich, wie sie, geheimnisvolles Symbol der ewig sich erneuernden Natur, über blühende Wiesen summten und die Kräfte der Natur aufsaugten. Das war das Heiligste, das wahre Geschenk, das wahre Geheimnis, nicht der Tod, sondern die Liebe – das fünfte Heiligtum.
    „Feuer!“ brüllte der General.
    Bienengift pulste durch seine Adern und vertrieb die lähmende Wirkung der Drogen, die ihm die Steward-Soldaten verabreicht hatten, vertrieb seine Müdigkeit, vertrieb Haß und Schmerz aus seinem Herzen. Plötzlich wurde er ganz klar. Er sah jedes einzelne Gesicht in der Menschenmenge. Er sah Mayas Augen, sie leuchteten hell und freundlich. Nein, er würde sie nicht töten. Alles, was passiert war, ihr und Rosa, es hatte keine Bedeutung. Er konnte sie alle nicht schützen. Er konnte Geschehenes nicht ungeschehen machen, seine früheren Entscheidungen nicht rückgängig machen, er konnte nicht dafür einstehen, immer nur stark zu sein. Aber das war alles unwichtig. Wichtig war nur, allen Mut zusammenzunehmen, und einen weiteren Schritt auf der Straße des Lebens zu machen.
    Langsam und vorsichtig, als wäre das Gewehr ein schlafendes Kind, legte Bird das Gewehr auf den Boden.
    „Ich werde nicht für Sie töten“, sagte er zum General.
    „Dann stirbst du.“
    „Das ist die bessere Lösung“, gab Bird zurück, „dann kann ich noch hoffen.“ Er hob die Arme und wartete auf den Schuß, auf den Schmerz und das Dunkel der Erlösung. Er spürte keine Angst, er fühlte wieder festen Boden unter seinen Füßen.
    Das Lied, das er für Madrone gesungen hatte, klang ihm in den Ohren. Er hatte gemeint, die Musik habe ihn verlassen. Doch nun begannen seine Muskeln ohne sein Zutun zu arbeiten. Sein Mund öffnete sich, seine Lippen bewegten sich, seine Zunge artikulierte Worte und Tonfetzen – er sang. Er sang, für die Menschenmassen auf er Plaza, für Maya, für Madrone, für alle. Die Töne klangen kraftvoll über die Plaza. In seiner Stimme klang Liebe mit, Liebe zu den Menschen, Liebe zur Natur, zum Leben, zu den Göttern. Liebe!
    Das war alles, was er noch tun konnte: Für seine Großmutter, für seine Geliebten, für seine Feinde und Henker, singen. Er hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Er hatte sich lange nicht mehr so fest und zuversichtlich gefühlt. Dieses Gefühl war stärker als Angst und auch Hoffnung. Er verstand plötzlich, daß ihm die Musik niemand nehmen konnte. Die Musik in ihm wuchs und wuchs. Sie hatten seinen Körper geschunden, hatten ihm die Knochen gebrochen, seine Hände zerschmettert, aber sie hatten seinem Geist und seiner Stimme nichts anhaben können. Sie hatten seinen Willen gebrochen, aber nicht sein musikalisches Empfinden, nicht sein Herz. Und wenn sie sein Gehör verletzt hätten, so hätten sie ihm doch niemals sein inneres Gehör nehmen können. Und wenn sie ihm seine Stimme genommen hätten, würde eine Stimme in ihm nicht aufhören zu singen. Es war falsch, zu glauben, die Musik sei in ihm. Es
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