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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium
Autoren: Philipp Vandenberg
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alles auf derart merkwürdige Art und Weise vonstatten gehe. So dachte sie.
    Gegen Mittag sind alle Museen der Welt halb leer, und das Museum in Dahlem machte da keine Ausnahme. Anne fand den Mann aus der Oper in den Anblick des Fußbodenmosaiks versunken. Sie erkannte ihn schon von weitem, obwohl er nun, bei Tageslicht, und mit einem hellen Trenchcoat bekleidet, einen viel jugendlicheren Eindruck machte. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen stand er da und starrte auf das Mosaik.
    Anne trat von der Seite an ihn heran. Der andere schien sie zwar zu bemerken, machte aber keinerlei Anstalten, den Blick zu heben und sie anzusehen. In Gedanken verloren begann er auf einmal zu reden: »Das ist Orpheus mit seiner Leier, einer, der die Geheimnisse der Gottheit kannte«, und er lächelte beinahe verlegen. Dann fuhr er fort: »Es gibt viele Versionen um seinen Tod. Eine besagt, er sei von Zeus durch einen Blitz getötet worden zur Strafe dafür, daß er den Menschen die göttliche Weisheit übermittelt habe. Glauben Sie mir, es ist die einzige richtige Version.«
    Anne stand wie erstarrt; sie hatte sich diese Begegnung ganz anders vorgestellt, und nun begann der mit einer Vorlesung über Orpheus. Orpheus? Das alles konnte doch kein Zufall sein: Am Abend zuvor Glucks Orpheus, und jetzt stand er vor diesem Mosaik und faselte über den Tod des Sängers.
    Nach einer Weile blickte der Mann auf, er sah Anne prüfend an wie ein Käfer die Ware, dann verschränkte er die Arme vor der Brust, und in dieser Haltung begann er, während er von einem Fuß auf den anderen trat, zu reden: »Also gut, wir sind bereit, unser Angebot auf eine Dreiviertelmillion zu erhöhen …«
    Der Gebrauch des Personalpronomens wir machte Anne nachdenklich. Kein wirklicher Sammler gebrauchte das Fürwort ›wir‹, ein wirklicher Sammler, für den sie den Rotbackigen bisher gehalten hatte, kannte nur ›ich‹, und zum ersten Mal kam in ihr der Verdacht auf, sie könnte, ohne es zu wollen, in eine Geheimdienstsache verstrickt sein. Der Geheimdienst ist neben der Kirche die einzige Institution, die nur das Wort ›wir‹ kennt.
    »Ich befürchte«, sagte Anne, »wir reden aneinander vorbei.«
    »Ich verstehe nicht. Wollen Sie sich etwas klarer ausdrücken?«
    »Das wollte ich Sie bitten!«
    Rotbacke holte Luft: »Sie sind doch Frau von Seydlitz?«
    »Ja. Und wer sind Sie?«
    »Das tut im Zusammenhang mit unserem Geschäft nichts zur Sache; aber wenn es Ihnen hilft, nennen Sie mich Thales.«
    Es half nicht, und Anne hätte es auch als albern empfunden, den Fremden mit ›Thales‹ anzureden, obwohl der Name irgendwie gut zu ihm paßte.
    »Mich interessiert«, begann Thales aufs neue, »mich interessiert vor allem eines: Wo befindet sich das Pergament zur Zeit?«
    Anne begegnete der Frage mit gespielter Ruhe, obwohl ihr tausend Dinge durch den Kopf rasten. Welches Pergament? Sie hatte keine Ahnung. Was hatte Guido ihr verschwiegen? Für gewöhnlich hatte Anne um alle Geschäfte gewußt, zumindest um die größeren. Warum hatte er ihr ausgerechnet dieses Geschäft verschwiegen? Ein Pergament für eine Dreiviertelmillion?
    Mit einem Mal erkannte sie Zusammenhänge, und sie ahnte, warum Guidos Aktenkoffer bei dem Unfall verschwunden war. Welche Rolle aber die Frau dabei gespielt haben konnte, blieb ihr verborgen.
    Ihr langes Schweigen machte Thales sichtlich nervös; jedenfalls blies er wieder auf abscheuliche Weise Luft durch die Nase. Es hörte sich an wie das Schließen einer U-Bahn-Tür. »Wo ist von Seydlitz?« schob er seiner ersten eine zweite Frage nach.
    »Mein Mann ist tot«, erwiderte Anne mit fester Stimme, ohne daß dabei ein Anflug von Trauer mitschwang, und sie sah dem Rotbackigen in die Augen.
    Der runzelte die Stirn, daß seine buschigen Augenbrauen hinter den Brillengläsern hervortraten. Man konnte nicht sagen, daß die Antwort ihn traf wie der Tod eines Menschen, den man kennt; vielmehr wirkte er äußerst verunsichert und besorgt um den Fortgang seines Geschäftes. Insofern war es nicht Trauer, die auf einmal in seiner weinerlichen Stimme schwang, sondern eher Selbstmitleid: »Aber wir haben letzte Woche noch telefoniert. Das kann doch nicht sein!«
    »Doch!« meinte Anne bestimmt.
    »Herzinfarkt?«
    »Verkehrsunfall.«
    »Tut mir aufrichtig leid.«
    »Schon gut.« Anne senkte den Blick. »Um Ihrer Frage zuvorzukommen: Ja, ich werde die Firma weiterführen, und insofern bin ich jetzt Ihr Ansprechpartner.«
    »Ich verstehe.« Thales'
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