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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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mit einer Plastiktüte und strangulierten sie, während sie doch sang), und das, was sie aus Angst, fehlerhaft zu singen, in ihrer Haltung ausdrückte, genauso aus, wie es der Regisseur im Herzen empfand, das auch nicht in Ausdrücken der sprachlichen Realität sich hätte äußern können, sondern heftig pochte.
Aristoteles über die Genese der dramatischen Gattungen
    Bernhard Zimmermann stellt in Übereinstimmung mit Christiane Sourvinou-Inwood 40 fest: »Die Tragoidoí sind ursprünglich eine Gruppe maskierter Männer, die in Athen das im Frühjahr fällige Bocksopfer vollziehen; sie treten auf mit Klage, Gesang, Vermummung und dürfen zuletzt den Bock verspeisen.« So behauptet es Aristoteles, der eine Art EVOLUTION von Tragödie und Komödie in kleinen Schritten beschreibt. Die Maskierten können, so die Deutung von Aristoteles in der Interpretation von Zimmermann, sich »unvorsichtig«, »ungeläufig« äußern. Was das ganze Jahr über verschwiegen werden muß (die Rede ist gefährlich), kann unter der Maske durch Zeichen und Worte geäußert werden. Das ist ein Chor, in dessen Lücken und Pausen das Drama wohnt.
    Allmählich treten Rollen hervor, so erweitert Christiane Sourvinou-Inwood die fragmentarischen Stellen bei Aristoteles. Es wird nämlich keine Dichtung entstehen aus dem Gemurmel des Chors, wenn nicht Einzelne mit ihren Charakteren hervorstechen. Das geschieht mit Einführung des zweiten Schauspielers durch Aischylos und des dritten durch Sophokles. Bühnenmalerei tritt hinzu. Das bedeutet eine Zunahme der gesprochenen Partien, weniger Tanz. Der jambische Trimeter verdrängt evolutionär den trochäischen Tetrameter. Die kleinen Stoffe ( MIKROI MYTHOI ) werden durch große Stoffe ergänzt. Es entstehen WÜRDE und UMFANG . Mimesis ist wie Harmonie und Rhythmus den Menschen angeboren, sagt Aristoteles.
    Aristoteles nimmt eine generische Evolution der Tragödie an, die ihren »Sitz im Leben« hat und eine anthropologische Konstante darstellt. Sie widersteht den bloß psychischen Dispositionen der Dichter. Niemand ist Herr der Tragödie, so Aristoteles, auch nicht die Gewaltherrscher, welche die Liebe zum Drama, mit großen Gruppen ekstatisch Tanzender, in Athen gepflanzt haben.

Ein aufgefundener Text Arno Schmidts über die Poetik des Aristoteles
    Über das hinaus, was die Züricher Kassette enthält, finden sich immer wieder Manuskriptteile von Arno Schmidt, oft in der Welt verstreut, die sein Werk vervollständigen (es können auch Fälschungen sein). Ein Text, den Schmidt für den Fall notiert hatte, daß er im Herbst 1962 zu einem Treffen der Gruppe 47 eingeladen worden wäre und die Einladung dann auch angenommen hätte (er zögerte entschieden), fand sich im Nachlaß Hans Dieter Müllers (Fundort ist die Friedrich-Ebert-Stiftung), der damals Schmidts Einladung bei Hans Werner Richter energisch betrieben hatte. Schmidt hatte Fragmente notiert, die er bei einer Lesung noch rechtzeitig ausfüllen konnte.
    Das Manuskript zeigt zwei Handlungsstränge. Ein Ich-Erzähler unterweist ein Kindermädchen in der nahen Kreisstadt, und zwar immer in der Zeit nach der Lateinnachhilfestunde, die er dem Sohn des Hauses zu geben verpflichtet ist. Er sucht dem Mädchen näherzukommen. Auf einer zweiten Ebene erörtert ein älterer, literaturerfahrener Sklave (ursprünglich stammt er aus Thessalien) mit einem verwöhnten Römersohn Fragen der Poetik des Aristoteles.
    Der Text beginnt mit den Worten »Der Mond, auch er fein = säuberlich card = anisch aufgehenkt, kellte Kasein übern Sandweg: heißt kein Sternbild über ›Reiterverein‹?« Die Notiz endet mit den Worten »Das verwaschene Milchgesicht oben sah uns sinnend zu«. Auch hier dürfte der Mond gemeint sein, dessen verschiedenartiges Licht den Text begleitet. Inhaltlich geht es um die »Tragödie als Lebewesen« im 23. Kapitel des Traktats über die Dichtkunst, eine relativ späte Stelle in den einschlägigen Ausführungen des Aristoteles. Bei der Deutung stützt sich der Ich-Erzähler, der sich F. Hauswedell nennt, auf Wolfram Ette und dessen Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal .
    Es stehen nämlich in der Evolutionsgeschichte der Dramen, die wie bei menschlichen Lebensläufen die allmähliche Verfertigung der »Überraschung« und des »Vergnügens« an der Mimesis realer Handlungen (durch Spiel) beschreiben, der Anfang (die Arché) und die Metabasis (also die Wende) entweder zum Glück oder zum Unglück, einander gegenüber. Das unabwendbare
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