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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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Jahrhunderte umfassen, die sich nach Weltteilen wiederum verschieden gliedern.
Erzählen in 100-Jahres-Abschnitten
    Im Jahre 1911 publizierten damals namhafte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Hermann Bahr, der Kolonialpolitiker Carl Peters, die Friedensforscherin Bertha von Suttner einen Band mit Aufsätzen, in denen die Welt in hundert Jahren, also im Jahr 2011, beschrieben wurde. Die Deutschen, heißt es dort, sind inzwischen aus Afrika verdrängt (sie waren zu gutmütig gegenüber den Eingeborenen). Die Briten und Franzosen haben den Kontinent ganz übernommen. Die Weißen wohnen in Hotel-Ballons, die in 2000 Metern Höhe über dem Land schweben, in kühler Luft.
    Zwischen China und Europa gibt es Krieg. Die Luftkämpfe werden von Zeppelinen ausgetragen. Aber schon Mitte des Jahrhunderts, schreibt Bertha von Suttner, verbreiten die Vernichtungswaffen, über die alle Weltmächte gleicherweise verfügen, so viel Schrecken, daß die Kämpfer innehalten. Es entsteht ein Kalter Krieg. Tragbare Telefone, sogenannte Theklas, erleichtern die Kommunikation. Pursuit of happiness , vor allem im Verhältnis zwischen den Geschlechtern, wird Verfassungsartikel.
    Nach Auffassung des Kritikers der FAZ enthält die Analyse »verblüffend treffsichere« und »auffallend falsche« Voraussagen. Nirgends aber gibt es in dem Buch einen Hinweis darauf, daß schon drei Jahre später durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Bruch in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts entstehen wird.
    Das Buch brachte Adam Sawyer, einen Gelehrten in Stanford, auf die Idee, man müsse jetzt für den Abschnitt von 2011 auf 2111 eine weitere solche 100-Jahres-Erzählung herstellen, und zwar nicht mit der Frage, was sich voraussichtlich ereignen werde, sondern vorausblickend, wo die »porösen Stellen« im Unterbau des Jahrhunderts liegen und wo der »Einbruch durch zu dünnen Boden« zu erwarten sein könnten. So könnte man den Eisenbahnzug der Geschichte, wenn man ein Jahrhundert mit einem solchen Schienenfahrzeug vergleichen wolle, bei entsprechender Aufmerksamkeit vor einem Unglück bewahren. Es stellte sich aber heraus, so Sawyer, daß – abgesehen von Experten im Versicherungsgewerbe – niemand bereit war, längere Artikel mit dieser Perspektive zu schreiben. Zu sehr waren die angefragten Protagonisten von der Masse der Eindrücke des laufenden Jahres bewegt.
Wie überträgt sich ein Wissen in der Kunst?
    Die Sängerin aus St. Petersburg, ein hervorragender Barock-Alt, wie ihn nur noch Rußlands Musikhochschulen hervorbringen, sprach kaum Englisch, kein Deutsch und auch kein Spanisch. Die mit den Tönen verknüpften Worte des Librettos formte sie mit ihrer Kehle und ihrem wachen Kopf, gleich, was sie darunter verstand. Der Regisseur aus Katalonien, der als radikaler Inszenierer galt, erläuterte ihr, daß sie im Schlußduett von Händels Il Trionfo del Tempo e del Disinganno ihre Aktion so anlegen müsse, als ob sie in den Tod ginge. Das solle sie ausdrücken, unabhängig davon, was sie inzwischen mit ihrer Stimme anstelle. Sie sah dem Regisseur in die Augen. Irgend etwas verstand sie über jede Sprachgrenze hinweg. Calixto Bieito, der Regisseur, glaubte ihr.
    Ihm lag an diesem Zwiegesang, der den Schluß von Händels Meisterwerk bildete. Er hatte die Szene als einen Mord auf Verlangen inszeniert. Der Sänger der ZEIT und die Sängerin der ENTTÄUSCHUNG (das war die Russin) traten einander gegenüber. Die Ernüchterung aber war zugleich die Vorstufe und die Substanz von WISSEN , also nicht VANITAS , ACEDIA (die mürrische Trägheit), die VERLASSENHEIT (der Ariadne), die UNEMPFÄNGLICHKEIT , die sämtlich nicht zur Erkenntnis führen. Der Bruder seiner Mutter war so in den Tod gegangen, ein weiser Mann. Alles, was der Regisseur auf die Bühne brachte, entsprach einer seiner inneren Stimmen und der eigenen Beobachtung. Seinen ruhigen braunen Augen war nicht anzusehen, mit welch rabiaten Szenen er die Phantasien des Publikums durchschüttelte. Er ging davon aus, daß die Figuren des spanischen Barock der Leitung der Staatsoper geläufig wären. Auch hierin irrte er, was an dem Verständnis nichts änderte, das ihm entgegengebracht wurde. Es war etwas anderes als Kenntnis, das die an diesem Projekt Zusammenarbeitenden verband.
    Die russische Sängerin konzentrierte sich völlig darauf, die Partie richtig zu singen. Das erschöpfte alle Kräfte, und so sah das, was die anderen Akteure mit ihr machten (sie überzogen ihren Kopf
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