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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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Ende, das jede glücklichere Alternative ausschließt, hat seine Macht nur dann, wenn man von der Abgeschlossenheit der Anfänge ausgeht. Wenn also das Kindermädchen sich dem Ich-Erzähler hingibt, so kann dies zu einem unglücklichen Ausgang der Affäre für beide Liebesleute führen, falls sie unerfahren sind. Geht man aber von der »Unabgeschlossenheit der Vergangenheit« aus, so teilt sich diese auch der Zukunft mit. Viele glückliche Erlebnisse aus der Zeit davor, so berichtet jetzt auf der zweiten Ebene der kluge philologische Sklave, können sich auch zu einem glücklichen Ausgang verdichten, wenn die »Teilnehmer einer Liebesgeschichte im Augenblick leichtsinnig handeln«. Ohne leichten Sinn aber, wird dann der Gedanke wieder auf der Ebene des Ich-Erzählers fortgesetzt, handelt keiner von beiden, und die kostbare Stunde (nach der bezahlten Nachhilfestunde) vergeht durch bloßes Reden ohne Handeln. In diesem Augenblick greift der Ich-Erzähler nach Hautteilen seines Gegenübers und wird freundlich abgewehrt.
    An dieser Stelle notiert Schmidt längere Passagen aus der Arbeit von Wolfram Ette. DIE EVOLUTION IST EINE BASTLERIN . SO BASTELT SIE AUCH BEI DER GENESE DER TRAGÖDIEN . Dabei gibt es, folgt man der Poetik des Aristoteles, kein subjektives und kein objektives Gegenüber (wie im modernen Theater), sondern wir sind umfangen von der Handlung in ihrer Ganzheit, in der Einheit von Ort und Zeit; aller Ausgang ist also mit dem gesetzten Anfang besiegelt. Der Witz aber liegt in der Frage, so der Ich-Erzähler nach Arno Schmidt und dieser nach Wolfram Ette: Was genau ist der Anfang? Wird bei dem Anfang (und damit meint der Ich-Erzähler die aufkeimende Einfühlung des jungen Kindermädchens, die auf seine eigene antwortet) etwas VERGESSEN , unterdrückt oder gleich anfangs eine falsche Wahl getroffen, dann ist auch am Ende, am Telos des tragischen Wendepunkts, ein Ausweg möglich. Versuchen wir doch, Anfänge zu bilden, sagt jetzt wiederum der erfahrene Sklave zu dem Römerkind, das einmal Statthalter oder Senator sein wird. Gesetzt den Fall – jetzt wieder der Ich-Erzähler –, Ödipus hätte einen Cousin. Dieser führt nicht das Leben seines fluchbeladenen Verwandten. Hier könnte eine schöne, ja gemütliche Liebesgeschichte herausschauen.
    An dieser Stelle greift das Kindermädchen mit einem Beitrag ein, einem längeren Monolog. Bei Hautkontakten und Beisammensein sei es stets schön, wenn es lange dauere. Dies entspreche, das habe sie gelesen, einer »Wiedergeburt vom Tode«. Die Antwort des Ich-Erzählers hierauf hat Arno Schmidt nicht ausgeführt. Das wollte er wohl noch tun, sobald er wüßte, daß er die Geschichte in der Gruppe 47 wirklich vorläse.
    Der Text setzt sich dennoch fort, und zwar durch eine Erzählung des philologischen Sklaven, der sich merkwürdigerweise und anachronistisch auf Anton Bierl und dessen Ausführungen über den griechischen Roman Daphnis und Chloe stützt. Dort wird der allmähliche Gang der Erzählung über vier Bücher hinweg analysiert. Es wird geschildert, wie lange zwei Jugendliche benötigen, bis sie schließlich das überwältigende Gefühl der Liebe, die als Krankheit beschrieben wird, durch drei Heilmittel: »den Kuß, die Umarmung und das Nackt-beieinander-Liegen« in den beide befriedigenden Sexualakt überführen können. Das dauert vier Sommer und Winter. Durch folgende Zeichnung wird das bei Arno Schmidt skizziert:

    Können Erzählungen, fragt am Ende der Sklave aus Thessalien, die ein tragisches Ende besitzen, in größerer Länge erzählt werden als Erzählungen über die allmähliche Verfertigung von Lust, wenn doch Dritte hier Beiträge leisten 41 und so das epische Prinzip anders als bei Trojas Untergang Platz greifen kann? Das letzte Wort in dem Text hat der jugendliche Römersohn, zu dem sich der alte Sklave offenkundig hingezogen fühlt und von dem er sich gern wärmen lassen würde (was er sich aber nicht traut): Er weist auf den Mond hin, der kühl und keusch das Geschehen bescheint und sich über 2000 Jahre hinweg in seiner Handlungsfolge wohl wenig verändert, auch wenn er sich jährlich vier Meter von der Erde entfernt, und der insofern, aber nur für Sternkundige erfahrbar, ein Bild des Abschieds darstellt. Man wird traurig über das »Milchgesicht Mond«, sagt der kleine Römer, den Arno Schmidt einen »Milchbart« nennt.
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