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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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Kind!«
    »Endlich?« fragte der Eichmeister Eibenschütz. »Du wolltest es ja nie! Weshalb jetzt?«
    »Gerade jetzt!« sagte sie und schälte dabei sehr vorsichtig eine Orange. »Ich habe heute«, begann er – während sie noch den Kopf über Messer und Frucht gesenkt hielt –, »mit meinem Schreiber, dem Josef Nowak, gesprochen. Er ist ein Schürzenjäger, bekannt im ganzen Bezirk. Er behauptet, er hätte im Frühling und im Sommer viele Frauen hier gehabt, im Grenzwald, natürlich sagt er nicht, welche. Im Herbst und im Winter – sagt er – sei es gefährlich für ihn, das Gasthaus Jadlowkers aufzusuchen, weil er mich amtlich dort oft vertritt.«
    Die Frau aß gerade ihr letztes Viertel Orange. Sie erhob ihren Blick nicht. Sie sagte: »Schrecklich, die Frauen in dieser Gegend!«
    »Er schenkt allen Ringe!« erwiderte der Eichmeister.
    Sie ließ das letzte Stück Orange fallen und sah auf ihren Ring am linken Zeigefinger. Es entstand ein langes Schweigen.
    »Dieser Ring stammt von Josef Nowak«, sagte plötzlich der Eichmeister. »Ich kenne ihn, ich habe ihn an seiner Hand gesehen.«
    Auf einmal begann die Frau Regina heftig zu weinen. Sie streifte dabei, mitten im Schluchzen, den Ring vom Finger ab und legte ihn vor sich auf den Tisch und sagte: »Du weißt also alles?« – »Ja«, sagte er. »Du bist von ihm schwanger. Ich werde meine Maßregeln treffen.«
    Er stand sofort auf, zog den Mantel an und ging hinaus. Er spannte das Wägelchen ein und fuhr los, nach Szwaby, zu Jadlowker.

X
    Es war spätnachts, als er dort ankam. Und man verwunderte sich nicht wenig darüber. Denn noch nie hatte der Jadlowker den Eibenschütz später als am Nachmittag gesehen. Auch war niemals noch der Eichmeister so aufgeräumt und deshalb so absonderlich erschienen. »Welche Ehre!« rief Jadlowker aus, und er tänzelte trotz seinem ziemlichen Gewicht hinter der Theke hervor. »Welche Ehre!« Zwei Taugenichtse, die an einem Tisch in der Ecke saßen, jagte Jadlowker davon. Er breitete ein rot-blau geblümtes Tuch über das Tischchen und rief, ohne den Eichmeister nach seinen Wünschen zu fragen, zur Theke hinüber: »Met, ein Viertel, ein Teller Erbsen!«
    Es herrschte ein großer Lärm in der Grenzschenke Jadlowkers. Russische Deserteure saßen da, eben erst von dem Grenzschmuggler Kapturak angebracht. Sie steckten noch in ihren Uniformen. Obwohl sie ungeheuerliche Mengen Tee und Schnaps tranken und große Handtücher um die Schultern gehängt bekommen hatten, um sich den Schweiß abzuwischen, machten sie dennoch den Eindruck von Frierenden – so heimatlos fühlten sie sich bereits, kaum eine Stunde entfernt von der Grenze ihrer Heimat. Der kleine Kapturak – man nannte ihn den »Kommissionär« – betreute sie mit Alkohol. Er bekam von Jadlowker fünfundzwanzig Prozent von jedem russischen Deserteur. Die unverhoffte Ankunft des Eichmeisters störte den Wirt Jadlowker gar sehr. Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, den Deserteuren, die doch den Wunsch hatten, ihre russische Uniformen zu wechseln, Stoffe und Anzüge anzubieten, für deren Verkauf er keine Lizenz hatte. Einerseits ärgerte ihn also die Anwesenheit des Eichmeisters, andererseits aber freute sie ihn. Endlich hatte er ihn, den Strengen, in der Nacht bei sich – und die Nacht war die große Freundin des Leibusch Jadlowker. Er rief seine kleine Freundin herunter.
    Seit langen Jahren lebte er mit ihr. Es hieß, auch sie käme aus Rußland, aus Odessa, und sie hätte teilgehabt an mehreren Missetaten Jadlowkers. Ihrer Sprache, ihrem Wesen und ihrem Aussehen nach stammte sie ebenfalls aus der südlichen Ukraine. Schwarz, wild und sanft zugleich sah sie aus. Jung war sie, das heißt eigentlich: ohne irgendein Alter. In Wirklichkeit – was aber niemand in der Gegend wissen konnte – war sie eine Zigeunerin und stammte aus Jaslova in Bessarabien. Jadlowker hatte sie eines Nachts aufgetrieben und behalten. Eifersüchtig war er zwar von Natur, aber der Liebe der Schwarzen sicher und allzu sicher auch seiner eigenen Gewalt über Frauen und Männer. Viele Menschen gehorchten ihm in dieser Gegend, diesseits und jenseits der Grenze. Kapturak sogar, der allmächtige Kommissionär, der die Männer verkaufte wie Rindvieh, an die Reisegesellschaften für Auswanderer nach Kanada, Java, Jamaika, Porto Rico, Australien gar: auch Kapturak gehorchte dem Jadlowker. Gekauft hatte er die meisten Beamten, die ihm jemals hätten schaden können. Erworben hatte er lediglich noch nicht den
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