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Das ewige Leben

Das ewige Leben

Titel: Das ewige Leben
Autoren: Wolf Haas
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überhaupt eine hochinteressante Sache, dass die Menschen sich oft gerade dann verraten, wenn sie recht gescheit sein wollen. Und statt zu schweigen, hat der Brenner jetzt seine Gescheitheit nicht für sich behalten können. Pass auf, ist auch wirklich eine interessante Sache, die nicht jeder weiß: Durch den Rückstoß schleudert es dem Selbstmörder die Pistole normalerweise aus der Hand. Kommt nur ganz selten vor, dass die Finger sich so verkrampfen, dass die Waffe in der Hand des Toten bleibt.
    »Die haben mir die Pistole in die Hand gedrückt.«
    »Jaja«, hat der Psychiater zufrieden gelächelt.
    »Lassen wir es für heute dabei bewenden. Morgen reden wir noch einmal über Ihr Testament.«
    »Ich rede überhaupt nichts mehr«, hat der Brenner gesagt. Aber er hat gewusst, jetzt ist es zu spät für trotzige Antworten. Vorher hätte er schweigen sollen statt gescheit daherreden, und nicht jetzt sagen, ich sage nichts mehr. So ist das Sprichwort nicht gemeint. Weil das Sprichwort ganz eindeutig: Wer redet, bleibt. Wer schweigt, geht.
    Obwohl. Gegangen ist der Brenner ja schon. Nur. Wohin gegangen? Weil es gibt ein Gehen, das ist schlimmer als das schlimmste Bleiben.
     

3
    Am Anfang war natürlich von Gehen sowieso keine Rede. Weil du wachst nicht aus dem Koma auf und spazierst gleich über den Krankenhausgang. Und das war vielleicht überhaupt seine größte Leistung, da kann man jetzt einmal das ganze Mörder-Finden beiseite lassen und dass wir ohne den Brenner heute unter den Grazer Spitzenbürgern einen unentdeckten Mörder sitzen hätten, das hat er bestimmt auch gut gemacht, und vielleicht wäre Graz ohne den Brenner heute schon ein Chicago, ein Moskau, aber ich sage trotzdem, größte Leistung, dass er noch einmal aus dem Rollstuhl herausgekommen ist und das Gehen wieder gelernt hat.
    Jeden Tag einen kleinen Schritt, anders funktioniert das nicht. Zuerst nur im Zimmer, dann sogar ein bisschen Krankenhausgang, und das Gangfenster ist noch ein Traum in weiter Ferne, verlockend, leuchtend, frage nicht, aber unerreichbar. Du kämpfst dich am ersten Gangbett vorbei, am zweiten Gangbett vorbei, du kämpfst dich am Schwesternzimmer vorbei, du kämpfst dich am dritten Gangbett vorbei, am Besuchertischchen vorbei, du kämpfst und kämpfst, und irgendwann bist du beim Gangfenster hinten, am siebzehnten Tag, wenn du es genau wissen willst.
    Das ist natürlich ein Triumph, wie ihn ein Gesunder gar nicht kennt. Dann zwei Stunden ausschnaufen und beim Gangfenster hinausschauen, und zurück muss dich die Krankenschwester halb bewusstlos im Rollstuhl bringen, aber irgendwann schaffst du auch den Rückweg, beim Brenner war das am sechsundzwanzigsten Tag nach dem Aufwachen, weil er hat mitgezählt, und wie ihn die Schwester Vanessa zum ersten Mal am Arm bis zum Schwesternzimmer geschleppt hat, war es genau der zehnte Tag, und sechzehn Tage später ist er ohne die Schwester bis zum Gangfenster und allein wieder zurück, siehst du, sechsundzwanzig Tage, das stimmt genau, kein Wunder, weil Zeit zum Nachzählen hat er genug gehabt.
    Du wirst sagen, wenn einer am Neujahrstag aufwacht, kann er notfalls auch auf dem Kalender nachschauen. Aber die Ärzte haben gesagt, in jedem Fall ein gutes Gehirntraining, egal ob er regulär mitzählt oder ein bisschen mit dem Kalender schwindelt. Und das stimmt auch, für das Gehirn war es gut. Aber für den Brenner war es nicht gut. Weil die Ärzte haben ja nicht wissen können, welche Gespenster zusammen mit dem Gehirn und zusammen mit den normalen Erinnerungen wieder aufwachen.
    Heute glauben ja die Leute, es gibt keine Gespenster, aber das stimmt nicht, es gibt Gespenster. Das hat man jetzt am Brenner so gut gesehen, wie sie langsam wieder dahergekommen sind.
    Zuerst einmal nur die alten Erinnerungen, Name, Geburtsjahr, Kindheit in Puntigam, Polizeischule in Graz. Aber mit der Zeit ist es immer weiter heraufgegangen, erste Polizeijahre, dann Kripo, immer weiter herauf ist die Erinnerung gekommen, dann sogar die Detektivjahre, und bis in den vergangenen Herbst, wo er auf seine alten Tage wieder nach Puntigam zurückgekommen ist. Weil der Pächter ist aus der Schreinerwerkstatt von seinem Großvater hinausgestorben, jetzt war das Haus bis auf das eine Mansardenzimmer leer, da hat er sich kümmern müssen, und dann hat er sich gedacht, warum nicht gleich zurück.
    Das ist ihm alles nach und nach wieder eingefallen. Immer am Krankenhausgang, beim Gehen-Üben, nie beim Dr. Bonati in der
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