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Das ewige Leben

Das ewige Leben

Titel: Das ewige Leben
Autoren: Wolf Haas
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Psychiaterstunde. Wenn du dich auf die Schritte konzentrierst, da kommen dir die meisten Erinnerungen, das ist sehr interessant. Wenn du dich rein auf das Körperliche konzentrierst, auf das Gehen, auf das Schnaufen, auf das Abstützen am Fensterbrett, dann kommt das Geistige beim Gangfenster lawinenweise herein. Nur die letzten drei Tage vor dem Koma sind am Fensterglas abgeprallt. Dass es sowas gibt, die sind einfach nicht hereingekommen, die waren so sauber weggeputzt, Fensterputzreklame nichts dagegen. Als hätte er sie nie erlebt. Von früher ist ihm alles Mögliche eingefallen, sogar Sachen, die er vor der Hirnverletzung nicht mehr gewusst hat. Aber die letzten drei Tage nichts.
    Jetzt musst du eines wissen. Das mit dem Krankenbesuch. Es gibt in den Spitälern immer einen großen Prestigekampf unter den Sterbenden, wer kriegt den meisten Besuch. Und wer kriegt vielleicht sogar außerhalb der regulären Besuchszeit einen Besuch, sprich wichtige Patienten mit wichtigem Besuch, und wer kriegt gar nie einen Besuch, sprich der Brenner.
    Jetzt natürlich umso auffälliger, dass er nach ein paar Wochen auf einmal Besuch kriegt. Während der Besuchszeit hat er sich immer ganz gern zum Gangfenster gestellt und hinausgeschaut, weil da war immer etwas Interessantes zu sehen, Krankenschwestern und, und, und. Da sind ihm viele Kindheitssachen eingefallen, wenn er so hinausgeschaut hat in das Grazer Winterwetter, wo schon seine Großmutter immer gesagt hat, kein richtiges Wetter, sondern immer ein bisschen ding. Ja siehst du, das ist ihm jetzt auch wieder eingefallen. Von früher tausend Sachen eingefallen, erster Schultag, erstes Sparbuch, erste Zigarette, erste Jimi-Hendrix-Platte, erste Liebe, erster Vollrausch, erste Pistole, erste Uniform, erster Vollrausch in Uniform, erster Sex in Uniform, erste Handschellen, erste Leiche, weil erste Eindrücke einfach immer am lebendigsten sind.
    Es hat ihm gefallen, wie da jeden Tag mehr beim Fenster hereingekommen ist. Außerdem ist er so auch den Besuchern von den anderen Patienten ausgekommen, weil die haben immer so mit diesem Blick geschaut: Kriegt der denn gar nie einen Besuch.
    Aber das hätten die sich auch nicht träumen lassen. Dass der Brenner eines Tages Besuch durch das Gangfenster im dritten Stock kriegt. Und noch dazu durch das geschlossene Fenster. Und noch dazu eine halbe Stunde nach Ende der Besuchszeit.
    Pass auf. Der Besuch ist so wirklich vor dem Brenner gestanden, den hätte er abwatschen können, und es hätte wirklich geklatscht. Das ist ja nicht wie eine normale Erinnerung, wenn sich so ein beschädigtes Gehirn erholt und auf einmal ist der vergessene Tag wieder da, sondern das war eine materielle Anwesenheit von seinem Besuch, da hat der Brenner jetzt aufpassen müssen, dass er sich nicht zur Wiedergutmachung selber auflöst, damit die Realität schön im Gleichgewicht bleibt.
    Und nach einer Sekunde war der Besuch wieder weg. Du wirst sagen, das klingt nach Einbildung. Weil Besuch meistens zu lange, sprich länger als eine Sekunde. Und ich muss auch sagen, Besuch, der nur eine Sekunde bleibt, das wäre Besuch aus einer besseren Welt. Nach meinem Geschmack übertreibt der es sogar ein bisschen mit den Manieren, weil wenn es nach mir geht, darf ein Besuch ohne weiteres einmal zwei, drei Sekunden bleiben, bevor ich ungeduldig werde.
    Und trotzdem war es keine Einbildung. Du musst wissen, der Besuch ist ja nicht spurlos verschwunden. Der Besuch hat ihm etwas Schönes zurückgelassen. Jetzt was hat er zurückgelassen? Pass auf, seinen Namen. Köck. Am liebsten hätte der Brenner sich den Namen aufgeschrieben, damit er nicht gleich wieder weg ist. Der Köck. Aber natürlich, schreiben ist noch nicht gegangen, weil das Feinmotorische. Da muss ihm der Schusskanal irgendein kleines Fädchen im Hirn irritiert haben, vielleicht nur ein winziges Flinserl, jetzt war das Feinmotorische beim Teufel. Da müssen wir noch viel üben, hat die Schwester Vanessa immer gesagt.
    Jetzt ist dem Brenner nichts anderes übrig geblieben als schauen, dass er sich den Namen auch ohne Aufschreiben merken kann. Merken, hat der Brenner sich selber motiviert, und ihm ist aufgefallen, dass er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen hat. Gänsehaut hat wieder funktioniert, obwohl das gar keine grobe Sache ist, sondern eine feine, so eine hauchdünne Geisterhand, die dir da über den Rücken fährt, wenn zum Beispiel eine Schwester dich am Arm berührt, oder ein Gespenst aus der
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