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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus
Autoren: Pierre Magnan
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hätte man darunter suchen sollen? Inzwischen sind die Tannen, die dort nachgewachsen sind, auch schon wieder zwanzig Meter hoch. Da ist keine Spur mehr zu finden. Nur eine kreuzförmige Narbe an der Flanke des Bergs. Wenn Ihr Koloß überhaupt irgendwo zu finden ist, dann liegt er da drunter. Und dann braucht er auch keinen Stein bei all den Steinen, die auf ihm liegen!«
    »Aber Marie, Sie reden von einer Zeit, in der Sie ihn gar nicht mehr kannten. Wie war er früher? Als Sie ihn um sich hatten?« Sie hat mich angesehen wie ein unergründliches Orakel, das sämtliche Geheimnisse dieser Welt unter Verschluß hält. Sie hat mich angesehen, um sich davon zu überzeugen, daß sie genauso frei reden konnte, als wäre sie ganz alleine. Dann hat sie zu mir gesagt: »Da war die Nacht, in der er mich gerettet hat. Und erinnern Sie sich daran, Sie, der Sie ja Bescheid wissen, daß er am selben Tag noch morgens in Forcalquier gewesen war. Dann ist er in den Brunnen hinuntergestiegen. Und dann war er dabei, als der Zorme gestorben ist, und das alles am selben Tag. Und schließlich hat er die ganze Nacht hindurch auf einem Stuhl gesessen und war damit beschäftigt, das Übel zu erdrücken, das in mir war. Ich bin damals unvermittelt aufgewacht. Er schnarchte nicht. Er atmete stark wie ein Blasebalg in einer Schmiede. Die Luft, die aus seiner Nase und seinem Mund auf mich herunterwehte, war frisch wie der Bergwind … Er saß da, mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken … Meine Hände lagen immer noch auf den seinen, aber die waren nun schutzlos geöffnet. Sie lagen offen da, wie die beiden Hälften eines Granatapfels. Sie wissen ja, wie hartnäckig er sie immer geschlossen hielt, sogar dann noch, als die Hunde sie mit ihren Zähnen durchbohrt hatten. Und in jener Nacht habe ich meine Hände vorsichtig weggezogen und habe einen Blick auf seine Handflächen geworfen. Und da war sie, die Wahrheit … Die Wahrheit ist, daß seine Hände jungfräulich leer waren, keine einzige Linie war auf den Handflächen zu erkennen. Und deshalb, mein lieber Herr, hat er auch nicht gelebt.«
    Noch nach mehr als sechzig Jahren ging Maries Atem stoßweise bei der Enthüllung dieses Geheimnisses.
    »Aber ziehen Sie nur keine falschen Schlüsse daraus … Nachdem ich wieder gesund war, habe ich seinen Namen in alle Himmelsrichtungen gerufen. Man glaubte, ich würde verrückt werden. Von woher hätte man ihn mir denn herbeischaffen sollen? Als er mir den Ring angesteckt hat und mit einem Finger auf den Lippen davongegangen ist, da dachte ich, er würde wiederkommen. Was hätten Sie denn an meiner Stelle gedacht? Ständig rannte die Tricanote hinter mir her und schüttelte mich wie ein Pflaumenbäumchen. ›Vergiß ihn endlich, du Jammerlappen‹, rief sie mir hinterher. ›Der ist doch nur ein Haufen Asche.‹ Und eines Tages habe ich ihr geantwortet: ›Das weiß ich besser als Sie! Aber was heißt das schon? Glauben Sie, das könnte mich vom Weinen abhalten?‹«
    Das alles hat mir Marie erzählt und viele andere Dinge mehr … Nun blieb mir, lieber Leser, nur noch eines zu tun, damit in Maries Welt kein anderer außer mir von der Wahrheit Wind bekäme; ich mußte sie sterben lassen. Und das tat ich dann auch. Ich nahm mir noch einmal mein Manuskript vor, und in derselben Nacht starb sie sanft in ihrem schönen, weichen Bett, und niemand war bei ihr.
    Ihre Kinder, die es eilig hatten, in ihre vier Weltgegenden zurückzukehren, verkauften die schönen Möbel zu einem Schleuderpreis auf dem Marktplatz von Les Mées. Ein Antiquitätenhändler mit einem Laden in Forcalquier hat sich die Standuhr und Séraphins Wiege gesichert. Den Laden gibt es noch. Seine Schaufenster sind vielversprechend wie eh und je. Und was die Uhr und die Wiege betrifft, so sind sie, glaube ich, immer noch dort.
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