Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck
Autoren: Anne B Ragde
Vom Netzwerk:
hatte den Verdacht, dass Oma ihre Fernsehabende inszenierte, um Mutter loszuwerden, und deshalb machte ich an solchen Tagen einen großen Bogen um Mutter, in der stummen Angst, sie könne mir die Teilnahme am abendlichen Fest verwehren.
    Oma hielt mich liebevoll im Arm, zwischen Kissen und Decken, während wir die Männer anstarrten. An Frauen im Fernsehen kann ich mich einfach nicht erinnern. Es muss welche gegeben haben, aber Oma überging sie wohl schweigend. Sicher ist das die Erklärung. Einmal standen wir in einem Laden, wo Mutter und Oma Lebensmittel kauften und alle freundlich waren und lachten, und wo der Kaufmann mir ein Stück Schokolade reichte, doch danach auf der Straße war Mutter wütend. Sie schimpfte Oma aus.
    »Du alte Katze!«, sagte sie. »So zu flirten! Sich dermaßen anzubieten!«
    Oma warf ihre Einkaufstasche nach Mutter. Die Tomaten kullerten, das Brot fiel in Sand und Schmutz, die Butter wurde in einer
Ecke zusammengepresst, eine Büchse Vanillecreme fiel auf die Straße, und der Deckel ging ab und gelbe Creme quoll heraus. Ich wusste, was Flirten war, meine Barbie machte das dauernd. Ich ließ sie kehlig lachen und die Haare nach hinten schleudern. Oma hatte gelacht, aber meines Wissens nicht ihre Locken geschleudert. Ich ging in die Hocke und konnte einen Finger in die Creme und dann in den Mund stecken, ehe Mutter mich hochriss. Sie weinte, Oma weinte nicht. Und Mutter sagte, aber nicht zu mir: »Du glaubst, du seist die einzige Frau, die einzige. Und alles drehe sich nur darum und um dich!«

    Ich sehe sie draußen im Garten sitzen. Warme Gartenabende ohne Fernseher. In einem blauen Kleid, das unter ihren Bambussessel geweht wird. Ihre Knöchel mit den Muttermalen. Ein Glas in der Hand. Die Flaschen auf einem kleinen Tisch aus milchig grünem Glas und Bambusrand. Mutter wütend im Haus. Oma bewegungslos im Sessel, abgesehen vom Glas, das zu ihrem Gesicht hoch und wieder nach unten wandert. Ich kann sie sagen hören: »Du musst gern hier bei mir sitzen, Therese. Du ja.«

    Ach, dieses dänische müssen, das ich als Kind nie so recht verstanden habe ...! Wenn Mutter sagte, du musst dies nicht und das nicht, dann hatte das einen Sinn. Ich sollte das nicht tun, das klang logisch, obwohl das dazugehörige Verbot mich nicht immer gleichermaßen überzeugte. Aber wenn man musste ... ! Das war schlimmer. Dann durfte man, aber im dänischen müssen lag auch eine Aufforderung, die überzogen wirkte und nichts mit nicht dürfen zu tun hatte. »Ich muss pissen!«, konnte ich sagen, und darauf antwortete Oma: »Ja, sicher, aber da brauchst du doch nicht um Erlaubnis zu bitten!« Was ich ja gar nicht getan hatte! Oder wenn sie sagte: »Du musst«, mit der Betonung auf dem falschen Wort. Das machte mich unsicher und erweckte in mir den ersten Hauch von Verdacht, dass Wörter nicht das waren, als das sie sich ausgaben.

    »Wir halten zusammen«, flüsterte ich. »Wir kümmem uns nicht um deine Tochter.«
    Ihre Fingerspitzen, feucht vom beschlagenen Glas. Die Hecke, die vor uns und um uns herum himmelhoch aufragte. Die Vögel, die zwischen den Zweigen herumschwirrten. Der warme Wind, die Sonne, die als schmale Scheibe mit gelben, beweglichen Flecken unterging. Die offene Gartentür, die zu Mutter führte. Der Essensgeruch aus dem Nachbarhaus. Der Salzwassergeruch vom Strand. Das eine oder andere Auto, das auf der anderen Seite über die Straße fuhr, dort wo man unter der Pergola durchgehen musste, wenn man hinwollte. Das Plätschern des kleinen Springbrunnens, wo ein Satyr in der Mitte saß. Das blaue Kleid, das immer wieder unter den Sessel geweht wird. Dünne Fesseln und schmale Füße mit lackierten Zehennägeln. Die umeinander geschlungenen Füße, terrakottabraun. Und es konnte vorkommen, dass sie sich energisch über die Brüste strich. Wenn ich fragte, warum, dann antwortete sie: »Um festzustellen, ob sie noch immer da sind.«
    Wo war Opa? Ja, wo war Opa? Niemals da, weder im Garten noch im Wohnzimmer, wenn ein Fernsehabend kam. Er war gewissermaßen unsichtbar, saß in seinem Arbeitszimmer, mit Büchern und Mustern und Zeichnungen und Malgeräten, ein seltenes Mal am Klavier. Oma hielt ihn für ein medizinisches Wunder, da er sich taub stellen konnte, ohne sich die Ohren zuzuhalten. Er habe Ohrenlider, sagte sie, Lider, die sich in seinem Kopf schlossen und die Welt aussperrten.
    »Er wird es nie zu etwas bringen«, sagte sie. »Niemals werden sie ihm ein Porzellanmuster abkaufen. Die wollen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher