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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck
Autoren: Anne B Ragde
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wegen des Kontrasts wollte ich die Wand dahinter möglicherweise seegrün streichen, ich wollte mir auch ein altes Bild von Oma suchen und daneben hängen. Das Seltsame war, dass ich mich absolut nicht daran erinnern konnte, dieses Foto schon einmal gesehen zu haben, als ich klein war und hierher zu Besuch kam. Vielleicht lag es daran, dass ich als Kind die erotischen Untertöne nicht aufgefangen hatte. Es war auch mehr als Erotik, was in diesem Motiv lag, in diesem Stillleben aus Menschen. Ich studierte die Füße der nackten Frau, den Spann, die Höhe und die eleganten Fingerspitzen, wie die einer Balletttänzerin. Stian kam angerannt und stieß mit mir zusammen. Ich wies ihn auf eine für mich ungewöhnlich scharfe Weise zurecht. Das hier musste ich beschützen. Dieses Bild habe ich noch nie ausstehen können ...
    Ich lehnte es vorsichtig an das Sofa, das ich mit Stian teilte. In diesem Moment jagte vor dem Fenster ein schmutziger, heruntergekommener, streunender Hund vorbei. Der Hund war gelb und hässlich. Oma hätte eine Hand voll Koks nach ihm geworfen. Sie hatte Haustiere nicht leiden können. Aber Pferde hatte sie geliebt. Wenn uns Pferde begegneten, die in Ruhe auf der Straße standen und auf etwas warteten, dann streichelte sie ihnen das Maul, schmiegte ihr Gesicht daran, flüsterte kleine Wörter, die ich nicht hören konnte. Katzen und Hunde dagegen konnte sie nicht ausstehen. Die klammern, sagte sie immer.
    »Wer kriegt den Fernseher?«, hörte ich Mutter im Wohnzimmer fragen.
    »Die Müllabfuhr«, sagte Ib. »Der ist schwarzweiß.«

    Omas Fernsehabende waren ein Erlebnis. Die Vorbereitungen auf Omas Fernsehabende nahmen den ganzen Tag in Anspruch. Sie sah nicht jeden Abend fern, aber wenn sie sich erst einmal dazu entschlossen hatte, dann wurde es zu einer alles verschlingenden, totalen Aktivität. Es wurde gebacken und eingekauft. Eiswürfel wurden hergestellt, das Silbertablett, auf dem das Sodawasser stand, musste geputzt werden, und alle Kissen auf dem Sofa und die Schlummerdecken wurden im Garten ausgelüftet. Die Aschenbecher wurden gespült, ihr kleiner Mosaiktisch wurde verschoben, denn mitten im Zimmer sollte der Fernseher stehen, das Sofa musste in den dazu passenden Winkel gerückt werden. Die Pumpflasche, die aussah wie das Manneken Pis, wurde gewaschen und für mich mit Orangeade gefüllt. Wenn man auf den Knopf auf dem Sockel drückte, pisste das Manneken Pis ins Glas. Es sah wunderbar aus. Und ganz zum Schluss, wenn Gläser und Flaschen und Kekse und Eisbehälter und Aschenbecher und Manneken Pis auf dem Tisch aufmarschiert waren, dann wurden alle Lampen gelöscht, der Telefonstecker herausgezogen und die Vorhänge vorgezogen, falls draußen noch ein Rest Tageslicht zu sehen war.
    Wir lagen da wie in einem Meer aus Kissen und Decken, in einem flimmernden schwarzweißen Licht, mit dem Mund voller guter Dinge und Orangeade, und Omas Atem roch immer mehr nach Schnaps und Mentholzigaretten. Wir sahen uns alles an, Männer, die über uninteressante Dinge redeten, Reportagen von Bauvorhaben, Außenpolitik. Oma hatte über jede einzelne Person, die auf dem Bildschirm auftauchte, ihre Meinung. Einer hatte kein Kinn, ein anderer war offenbar ein Lügner, ein dritter hatte keine Frau, denn sein Schlips war verdreckt, ein vierter ließ ihre Augen leuchten und verträumt aussehen, denn er hatte Ähnlichkeit mit einem alten Bekannten.
    Mutter hasste die Fernsehabende, vor allem, wenn Oma das Manneken Pis spülte und ich am Spülbecken herumlungerte und aufgeregt über die Geschichte des echten Brüsseler Springbrunnens
erzählte. Oma berichtete mir von dem Vater, der seinen Sohn verloren hatte, und wie die ganze Stadt nach dem Kleinen suchte. Der Vater versprach, ein Standbild seines Sohnes zu stiften, das diesen so zeigte, wie er gefunden worden war.
    »Was wäre passiert, wenn er Pupu gemacht hätte, als sie ihn gefunden haben?«, fragte ich dann immer, während Oma mit offenem Mund und tanzender Zunge lachte. »Oder in der Nase gebohrt?«
    »Gott sei Dank hat er eben nur gepisst«, sagte Oma. »Schlimmer wäre es ja gewesen, wenn er geschlafen hätte.«
    »Wieso denn? Schlafen ist doch nicht schlimm.«
    »Aber so langweilig!«, erwiderte sie. »Und überleg doch mal, was das für eine öde Statue ergeben hätte! Und woher sollte dann das Wasser strömen? Und woher du deine Orangeade bekommen?«
    Mutter setzte sich mit Illustrierten ins Nähzimmer oder verlie ß das Haus und ging spazieren. Ich
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