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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck
Autoren: Anne B Ragde
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gepresst wird, um dann den Hals hochgeschoben zu werden. Und der Mund: Der wird zu beiden Seiten ausgedehnt. Und die Augen werden ein wenig zusammengekniffen, wie bei grellem Sonnenschein. Es kann zu einem heftigen Schmerz in den Schläfen führen, wenn wir uns unseres eigenen Lachens so klar bewusst sind.

    Nichts von allem, was ich sagen könnte, wäre eine Lüge, sondern einfach nur eine andere Version der Geschichte, der Art, wie ich sie erlebt hatte. Denn ich war die Auserwählte gewesen. Ich war durch ihr Haus getrippelt und eine Prinzessin gewesen, so sehr Prinzessin, dass Mutters Stimmungen mich nicht beeinflusst hatten. Ich wurde eines Abends von ihrem Weinen geweckt. Sie lag in Omas Haus in ihrem alten Bett und weinte in der Dunkelheit. Ich drehte mich um und schlief weiter. Es ging mich nichts an, bedrohte mich nicht. Ich würde in der Sekunde, in der ich erwachte, wieder Omas kleine Prinzessin sein. Der Wohnblock in Norwegen war unendlich weit weg, und wenn Opa nach Frederiksberg radelte, um sein Porzellan zu bemalen – der kleine unsichtbare graue Opa mit seiner flachen Ledertasche, die an der Stelle ausgebeult war, wo seine selbst geschmierten Brote lagen
–, und wenn Mutter allein in die Innenstadt ging, dann tanzten Oma und ich mit wilden Armbewegungen durch die Zimmer. Sie brachte mir bei, Gedichte zu deklamieren, sie gab mir einen Satz nach dem anderen, hüllte mich in Tüll und Samt, befestigte Kameenbroschen an meinem Hals und Glitzer in den Ohren, gab mir Lippenstift.
    »Groß war ihr Glück im Musentempel ...«, setzte Oma an.
    »Grouß woar ieer Glück im Muosentemmmel«, wiederholte die Prinzessin mit erhobenem Kinn und stahlhartem Blick. »Der Ballettmeister drüchte den letzten Stemplel...«
    »Der Ballettmeister drückte den letzten Stempel ...«
    »Der Ballettmaaister drückte den lätzen Stemmel.«
    »Stempel!« , sagte Oma.
    »Lätzen Stemmel.«
    »Ihr auf, und kaum war das geschehen ...«
    »Ih rauf und koam woar das gescheeen.«
    »Schon wollte alle Welt sie sehen.«
    »Schoun wollte alle Wält sie seeen.«
    »Ei, was bist du tüchtig , mein kleines Mädchen. Du gehörst auf die Büüühne!«
    Ihr selber war das Traurige, das Tränentriefende am liebsten, das Publikum sollte aus vollem Herzen weinen. Sie wollte das Schluchzen hören, das unterdrückte Stöhnen. Sie wollte in den dunklen Saal hinausblicken und die feuchten Taschentücher ahnen, wie weiße Tupfen, Symbole für ihre Tüchtigkeit, weiße Flaggen als Symbol der Hingabe, ich kann nicht mehr, ich kann diesen Schmerz nicht ertragen, diese Feinfühligkeit. So, erklärte sie, sollte das Publikum denken, sollte flehen, sollte sie bitten, bald aufzuhören.
    Sie hätte sie jetzt sehen sollen, wie sie in ihrem eigenen Wohnzimmer saßen und lachten. Hier waren nicht viele Taschentücher zu sehen, nur mein eigenes feuchtes Wischstück nach dem Niesanfall. Ich hätte auf einen Stuhl steigen und laut das Gedicht aus meiner Handtasche vortragen sollen, abgeschrieben aus einem Buch, das meine Großmutter mir vor einigen Jahren geschickt
hatte. Oma zog die Höhe vor, wenn Pathos angesagt war. Sie konnte sich mitten beim Essen erheben, auf einen Stuhl steigen, beide Hände an ihr Schlüsselbein legen und die rotweinglänzenden Augen zur Decke hochwandern lassen, eine blonde und damals mollige kleine Gestalt, zu der ich beglückt hochlachte, und ich klatschte in die Hände, während die anderen sie baten, wieder herunterzukommen. Sie blieb aber immer oben, bis sie fertig war.
    Ich weiß nicht, was ich mir beim Abschreiben gedacht hatte, vielleicht, dass ich es in der Kapelle vortragen könnte. Ich sagte Gute Nacht. Sie registrierten das kaum. Sie lachten über etwas anderes, über eine neue Erinnerung. Ich putzte mir die Zähne und wusch mir schwarze Wimperntusche von der Wange. Ich klammerte mich an den Solidoxgeschmack, ich fischte das jetzt zerknüllte Blatt aus der Tasche und ging in den Garten. Die anderen merkten nicht einmal, dass die Haustür hinter mir ins Schloss fiel. Und dort, unter der Pergola, las ich das Gedicht vor, und ich wusste, dass ich es donnerstags nicht in der Kapelle würde vortragen können. Ich flüsterte, und trotz der fehlenden Resonanz konnte ich Pathos in die Worte legen und die richtigen Stellen betonen. In meinen Ohren klang es Dänisch. Dänisch und weich, mit einer heißen Kartoffel im Mund – kartoffelweich:
    Dein Puls hat das Schlagen nun eingestellt,
wir konnten nicht einmal Lebwohl dir sagen,
doch
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