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Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)

Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Silvia Stolzenburg
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Er konnte ohnehin nicht schlafen! Während sich die Atemzüge seines Bettgefährten allmählich verlangsamten, stiegen – wie so oft seit dem Streit mit seinem Vater – Erinnerungen an seine Kindheit in ihm auf. Das wilde, unbeschwerte Spiel mit seinen Geschwistern, dem der Tod seiner vierjährigen Schwester ein abruptes Ende gesetzt hatte. Die unbegreifliche Trauer, die ihn tagelang gelähmt hatte, und das Hadern mit einem angeblich gütigen Gott, der solche Dinge zuließ. Die Zeit danach war verschwommen, als habe er den Rest seiner Kindheit vergessen wollen, bis er mit sieben Jahren in den Alltag des Erwachsenenlebens eingetreten war. Der Tag, an dem sein Vater ihn als Lehrling gedungen hatte, würde für immer unauslöschlich bleiben. Die Liebe und Güte, mit welcher der Steinmetz den Knaben gelehrt hatte, das Werkzeug zu führen und die Proportionen der Werkstücke zu erkennen; die Freude, die im Blick des Meisters zu lesen gewesen war, als Wulf ihm schüchtern seine erste Figur gezeigt hatte, die er aus einem Abfallstein gefertigt hatte. Erneut wollten Tränen in ihm aufsteigen, die er jedoch entschlossen schluckte. Dieser Abschnitt seines Lebens war zu Ende. Und ganz egal, wie sehr er seine Eltern geliebt hatte, die Lüge, mit der sie ihn achtzehn Jahre lang hatten leben lassen, konnte er ihnen nicht vergeben! Er ballte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten, um die immer noch in ihm kochende Wut zu bändigen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, seinem Elternhaus den Rücken zu kehren und sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen! Daran konnte es keinen Zweifel geben. Zwar hatte er erst nach seiner Ausbildung zum Bildhauer auf Wanderschaft gehen wollen, um danach zum Parlier – zum Obergesellen – oder Meister aufzusteigen, doch würde ihm sicherlich auch auf anderen Baustellen die Möglichkeit offenstehen, diesen Weg zu verfolgen. Er beantwortete einen Tritt gegen sein Bein, indem er seinen Bettnachbarn unsanft in die Rippen knuffte. Nachdem dieser ihm mit einem Grunzen den Rücken zugewandt hatte, drehte auch Wulf sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit.
    Warum sollte er sein Glück nicht in Ulm versuchen? Immerhin kursierten seit der Grundsteinlegung für das gewaltige Bauvorhaben der Reichsstadt Gerüchte, dass die Ulmer mit ihrer Kirche dem Straßburger Münster den Rang streitig machen wollten. Und hatten sie mit Ulrich von Ensingen nicht einen der bekanntesten Werkmeister weit und breit verpflichtet? Zwar kannte Wulf den Steinmetz und Bildhauermeister nur vom Hörensagen, doch was man sich über den zwar strengen aber genialen Ulrich erzählte, stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten. So hatten einige der fahrenden Zimmerleute von einem geplanten Turm erzählt, der von solch gewaltiger Höhe sein sollte, dass selbst der Turm von Babylon davor verblasste.
    Ein Stich in seiner Kniekehle ließ ihn zusammenschrecken und nach einer Kleiderlaus tasten, um diese zwischen Daumen und Zeigefinger zu zerquetschen. Man würde sehen. Er gähnte und streckte die Beine aus. Und wenn er schon einmal in Ulm war, warum sollte er dann nicht einige Erkundigungen über das seltsame Wappen einziehen, das er am Boden seines Reisebeutels versteckt hatte? Auch wenn er keinen Wert darauf legte, seinen leiblichen Vater kennenzulernen!, dachte er mit erneut aufflammendem Zorn. Das Krabbeln einer Wanze auf seinem Arm veranlasste ihn, mit einem ärgerlichen Brummen nach dem Störenfried zu schlagen, der sich jedoch bereits wieder aus dem Staub gemacht hatte. Als sein Bettgefährte wenig später einen knatternden, nach Zwiebeln stinkenden Furz ließ, riss Wulf ungehalten sein als Kopfkissen fungierendes Bündel unter sich hervor, packte seine Utensilien und stapfte zähneknirschend in den Schankraum, wo er sich vor der erkalteten Feuerstelle auf dem nackten Lehmfußboden zusammenrollte.

Kapitel 2

    In der Nähe von Ulm, Ende April 1368

    Eine anstrengende Woche und sechs ähnlich schäbige Gasthöfe später näherte er sich dem Ziel seiner Reise. Glitzernd zog sich das breite Band der Donau von Westen nach Osten, und als ihm ein am Ufer grasender Schwan mit einem Drohlaut nachsetzte, beschleunigte Wulf lachend die Schritte. Die noch kühle Brise trug ihm den schweren Duft von Flieder und Kastanienblüten entgegen, und das lautstarke Gezwitscher der Vögel verstärkte das in ihm aufsteigende Hochgefühl. Nachdem er die ersten beiden Tage und Nächte seiner Wanderung damit zugebracht hatte, sich mit dem zu
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