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Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)

Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Silvia Stolzenburg
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quälen, was nicht zu ändern war, hatte er am dritten Tag beschlossen, das Beste aus dem Abenteuer zu machen, das ihm bevorstand. Ein Vorsatz, der bei dem Anblick, der sich ihm schon von Weitem bot, nicht schwer einzuhalten schien. Ohne zu murren entrichtete er den zehnten Wegezoll des Tages, der es ihm gestattete, die Herdbrücke zu überschreiten, welche direkt auf eines der mächtigen Stadttore Ulms zuführte. Zuerst hatte er seinem Vater die matt glänzenden Gulden und Schillinge, welche dieser mit einem verächtlichen Brummen vor ihm auf den Tisch gezählt hatte, vor die Füße schleudern wollen. Inzwischen aber war er froh darüber, sein nicht unbeträchtliches Erbe in der Geldkatze an seinem Gürtel verstaut zu haben. Um vor Wegelagerern sicher zu sein, hatte er einen Teil des Betrages in der noch in Straßburg erstandenen Schecke eingenäht. Ebenso wie die dottergelben Seidenflügelärmel, die er an sein Hemd angeknüpft hatte, hatte er dieses Kleidungsstück am Morgen mit Bedacht gewählt, um Eindruck auf den berühmten Ulrich von Ensingen zu machen, von dem er sich eine Anstellung erhoffte. Auch die enge Hose mit den unterschiedlich farbigen Beinen, die dem neuesten Modegeschmack entsprach, würde die gewünschte Wirkung nicht verfehlen, hoffte er. Mit einem Pfiff durch die Zähne reihte er sich in die Schlange vor dem Stadttor ein und ließ die Augen zu dem hoch über die bunten Schindeldächer aufragenden Kirchenbauwerk schweifen, das sofort seine gesamte Aufmerksamkeit fesselte.
    Wie das Skelett eines riesenhaften Fabelwesens reckten sich die hölzernen Rippen der Langschiffjoche in den blauen Himmel, an dem ein Schwarm Schwalben sein heiteres Spiel trieb. Auf dieses hölzerne Hilfskonstrukt, so wusste Wulf aus seiner Bauerfahrung am Straßburger Münster, würden die Maurer Stein um Stein das Gewölbe mauern – sorgfältig darauf bedacht, das empfindliche Gleichgewicht nicht zu stören. Nach Plänen des Werkmeisters angefertigt, würde dieses Kreuzrippengewölbe am Ende der Bauphase das tonnenschwere Dach des Mittelschiffes tragen. Da allerdings nur die Joche, Gewölbescheitel und Chortürme von Wulfs Standpunkt aus zu erkennen waren, musste er sich den Rest der Hallenkirche ausmalen. Zu seinem Leidwesen entzogen sich die bereits errichteten untersten Partien des gewaltigen Westturms seinem Blick, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis er seine Neugier befriedigen konnte.
    »Was soll das?«, ertönte auf einmal die erzürnte Stimme eines seiner Hintermänner, und kurz darauf polterte ein mit geschälten und grob behauenen Baumstämmen beladener Karren an der Schlange vorbei. Diesem folgte eine ganze Reihe von zwei- und sogar dreiachsigen Wagen, die sich unter dem Gewicht von riesigen Steinquadern bogen. »Hört auf zu maulen!«, herrschte ein den Zug begleitender Wächter die Wartenden an, die rüde zur Seite gedrängt wurden, um Platz für die Baumaterialien zu machen. »Das Münster hat Vorrang!«
    Da Wulf es nicht eilig hatte, beobachtete er interessiert, wie der Zug vor dem Herdbruckertor ins Stocken kam, da eines der mit langen Holzbalken beladenen Gefährte zu breit war, um zu passieren. Innerhalb weniger Momente hatte sich ein Knäuel hilfsbereiter Männer gebildet, die allerdings nichts auszurichten vermochten. »Was für Schwachköpfe!«, schnaubte ein reich gekleideter Reiter keine zehn Schritte vor Wulf und trieb sein Reittier an, um sich zu den schimpfenden und fluchenden Handlangern zu gesellen. Nachdem er einige Zeit auf sie eingeredet hatte, begannen sie, ihre Fuhre abzuladen, was so manchem Wartenden ein Stöhnen entlockte.
    Entgegen aller Befürchtungen dauerte es jedoch kaum eine halbe Stunde, bis die Männer den Karren neu beladen hatten. Dieses Mal befand sich das Bauholz statt der Breite der Länge nach auf der Ladefläche, was zur Folge hatte, dass das Fuhrwerk den Torbogen ohne anzustreifen passieren konnte. Kaum war das letzte Gefährt in der Stadt verschwunden, setzte sich die Schlange mit einem Ruck wieder in Bewegung, und drei Stunden später nahm Wulf mit säuerlicher Miene das Wechselgeld für den Torzoll und die Aufnahmegebühr in die Stadt entgegen. Die Ulmer nahmen es wahrlich von den Lebenden!, dachte er, verstaute die Pfennige und fasste sein Reisebündel nach. Den Gestank der direkt an der Stadtmauer erbauten Ställe ignorierend, bahnte er sich einen Weg durch die Massen und steuerte schnurstracks auf die Münsterbaustelle zu, die dank der dorthin strömenden
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