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Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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worden war. Wenn es weiter oben in den Bergen regnete, verwandelte er sich in ein schlammiges, nahezu unpassierbares Bachbett. Trotzdem mochte Nikolaj den Weg. Er gewährte die ganze Zeit den Blick auf das Tal und die Hänge der gegenüberliegenden Seite. Kein Mensch verirrte sich hier hinauf, erst recht nicht so früh am Morgen. Der allgegenwärtige Duft blühender Akazien mischte sich mit dem Aroma von Schafgarbe, Thymian und Rosmarin.
    Nikolaj genoss die körperliche Anstrengung. Früher war es zwingende Notwendigkeit gewesen, in Form zu bleiben, doch jetzt diente es nur noch dem Selbstzweck. Das Laufen funktionierte wie Meditation. Während seine Muskeln arbeiteten, konnte er nachdenken. Am Anfang hatte er Vergangenes rekapituliert und Optionen durchgespielt, Reaktionen auf mögliche Entwicklungen, Pläne für den Fall, dass seine Zuflucht sich im Nachhinein als Sackgasse erwies. Dann, mit jedem weiteren Monat, als deutlich wurde, dass er vielleicht keinen Alternativplan brauchen würde, hatte er begonnen, seinen Horizont auf Dinge des täglichen Lebens zu verlagern.
    Kurz dachte er an Azizah Abourjeili, die Frau, die ihn besucht hatte. Sie war mitsamt ihren italienischen Freunden wieder abgereist, hatte Sarkis ihm erzählt. Alles wies daraufhin, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Dennoch war es die Art von Zufall, die er nicht brauchen konnte. Unerwünschte Aufmerksamkeit.
    Am Horizont über den Bergen bildete sich ein rötlicher Streif. Er musste unbedingt Pater Georg aufsuchen.
    Zwei Stunden später stieg er in seinen Wagen, um zum Kloster zu fahren. Die Straße führte von Hawqa aus in Serpentinen hinunter ins Tal, folgte eine Zeitlang dem Fluss in der Talsohle und begann dann wieder anzusteigen. Pinien und Kiefern lösten das Buschwerk auf beiden Seiten der Straße ab. Nikolaj parkte den Pickup auf einer Sandfläche, die neben der Fahrbahn ausplaniert worden war, zwischen einem alten Ford Escort und einem Suzuki Geländewagen. Das letzte Stück konnte nur zu Fuß bewältigt werden. Einhundertzwölf ausgetretene Stufen führten hinauf zur Klosterpforte.
    Nikolaj ließ sich beim Aufstieg Zeit. Er hatte sich die abgeschabte Ledertasche mit seinen Malutensilien über die Schulter gehängt, auch wenn er bezweifelte, dass er die Muße aufbringen würde, etwas zu zeichnen. Er liebte das Kloster mit seiner verwitterten Architektur. Manchmal verbrachte er ganze Tage dort oben. Doch Azizahs Besuch hatte eine innere Unruhe in ihm wachgerufen. Plötzlich fühlte er sich gemüßigt, sein Sicherheitskonzept in Frage zu stellen. Er war angespannt und nervös und es wurde mit jeder Stunde schlimmer.
    Den Eingang zum Klosterhof bildete ein Torhaus mit einem niedrigen Bogen, das von zwei Eichen beschattet war. Ein einzelner Mönch fegte den Hof mit einem Reisigbesen. Der Mann blickte auf und hob kurz die Hand zum Gruß, als Nikolaj in sein Gesichtsfeld kam, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. Nikolaj lief an der Kapelle vorbei zum Hauptgebäude. Er betrat das Foyer und von dort aus einen langen, schattigen Kreuzgang. Seine Schritte hallten auf dem polierten Steinboden. Das Zimmer des Klostervorstehers befand sich am Ende des Korridors. Kurz hob er die Hand und klopfte gegen die schwere Holztür.
    Minutenlang passierte nichts. Er klopfte erneut, dann drückte er vorsichtig die Klinke herunter. Die Tür war unverschlossen, das Büro stand leer.
    Kurz erwog er zu warten, entschied dann aber, den Abt zu suchen. Er nahm den Weg zurück, den er gekommen war, um dann die Treppe zum ersten Stock hochzusteigen, wo sich die Bibliothek und das Skriptorium befanden. Plötzlich hörte er Stimmen von oben, laut und ungewohnt.
    Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen.
    Eine Gruppe von Menschen auf dem Korridor über ihm kam in Sicht. Ausländische Besucher, ein zwar immer noch seltener, aber nicht mehr ungewöhnlicher Anblick. Der Abt war ein großer Förderer des Tourismus, denn die europäischen und amerikanischen Gäste brachten Geld in die leeren Kassen der Bruderschaft. Die Besuchergruppe passierte die Treppe und sammelte sich im Korridor. Nikolaj fing ein paar Wortfetzen in Französisch auf. Reflexartig machte er kehrt, um der Begegnung auszuweichen.
    Er fand den Abt im Klostergarten. Pater Georg war ein hagerer, unscheinbarer Mann. Mit seiner Metallbrille sah er aus wie ein Gelehrter. Er war in ein Gespräch mit zwei Brüdern vertieft, aber als Nikolaj sich näherte, wandte er sich ihm sofort zu. Sie tauschten Höflichkeiten
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