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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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zu erzählen hatte und weswegen sie schließlich zu ihm gekommen war.
    »Ich spüre es auch, kleine Ardhes- ayen .« Einige Augenblicke lang sah er zu den Sternen auf, als sei er selbst einer von ihnen gewesen und überlege nun sorgenvoll, wie er wieder dort hinaufkäme. »Sie haben gewonnen. Die Haradonen haben gewonnen in ihrem riesigen Menschenkrieg. Und sie sollen die Sieger bleiben, zumindest so lange, wie sie sich ihres Sieges ganz sicher sind. Und wenn die Jahre vergehen … Niemand wird Sieger bleiben.« Er sah Ardhes an, mit seinem wissenden, verlorenen Blick, und sie hatte wie immer keine Ahnung, ob er hoffnungsvoll oder völlig niedergeschlagen war. »Wer heute siegt, wird in Jahren verlieren, wer heute lebt, wird in Jahren tot sein, und wer heute die Welt regiert, wird in Jahren vergessen sein, als hätte es ihn nie gegeben.«
    Ardhes erwiderte nichts, obwohl sie die Worte ihres Vaters verwirrten. Aber was hatte sie erwartet? Ihr Vater sprach immer in Rätseln.
    Sie sah zu den Sternen auf, die fast schon im Dämmerlicht verschwunden waren, und überlegte, dass ihr Vater tatsächlich zu ihnen gehören musste - er gehörte in eine verblassende, unwirkliche Welt der Träume und nicht auf den Balkon eines Schlosses. Nicht in einen Krieg. Und schon gar nicht an die Seite einer Frau wie Königin Jale.
     
    Ardhes war auf dem Weg zurück, als ihr Candula schon im Flur entgegeneilte. Die alte Amme hatte offenbar nicht einmal Zeit gehabt, ihre Haare hochzuflechten, denn sie standen um ihr pausbäckiges Gesicht ab wie Draht.
    »Prinzessin«, rief sie atemlos. »Prinzessin … Ardhes! Eure Mutter die Königin will Euch in ihrem Gemach, sofort!«
    Ardhes, die es gar nicht wunderte, dass ihre Mutter so früh am Tag nach ihr verlangte - zumal sie ja von ihrem Vater schon erfahren hatte, dass Haradon den Krieg gewonnen hatte -, ging gelassen an Candula vorbei in ihr Zimmer. »Aber ja, Candula, dann kleide mich an.«
    Die Amme holte ein Kleid aus der Truhe am Bettende und zog Ardhes an. Sie wusch ihr das Gesicht und flocht ihr die Haare zu einem kunstvollen runden Kranz um den Hinterkopf. Dann machten sie sich auf den Weg zu den Gemächern der Königin, und Candula versuchte währenddessen, ihr eigenes Haar so gut wie möglich zu ordnen.
    Die Gemächer des Königs lagen abgeschieden an der Nordseite des Schlosses, doch die Königin von Awrahell hatte sich im Mittelpunkt des Schlosses eingerichtet, und statt großer Balkone und schöner Aussichten auf das felsige Land, das sie so hasste, war es ihr wichtiger gewesen, den Empfangssälen und den königlichen Hallen nahe zu sein. Sie beanspruchte viele Gemächer für sich: zwei zum Schlafen, sieben zum Sticken, Weben und Teetrinken, vier zum Beraten und Besprechen, obwohl sie alle Beratungen und Besprechungen ohnehin in den Empfangssälen abhielt, und drei Zimmer zum Speisen. Die Magd, die nach Ardhes geschickt worden war, hatte Candula gesagt, in welchem der vielen Räume die Königin auf ihre Tochter wartete. So steuerte die Amme zielsicher eines der Schlafzimmer an. Eine Magd empfing sie schon davor und öffnete Ardhes die Tür.
    Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, drehte sich die Königin um. »Ardhes!«
    Ardhes neigte den Kopf. Sie verbeugte sich nicht, denn ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass sie sich vor niemandem tiefer zu verneigen hatte als mit einem leichten Kopfnicken. »Guten Morgen, Mutter.«
    Ein Strahlen lag auf Königin Jales hagerem Gesicht. Vor vielen Jahren musste sie Ardhes sehr ähnlich gesehen haben; sie hatte denselben Mund und dasselbe spitze Kinn und ihr dickes, glanzloses Haar war von derselben Sandfarbe. Doch Königin Jale war eine verbissene Frau, die mehr hasste als liebte und sich öfter ärgerte als freute. Diese Eigenschaften hatten sich in ihren Blick geschlichen.
    »Meine Liebe, komm her, komm her!« Königin Jale winkte Ardhes zu sich. Sie stand vor ihrem großen Spiegel und ließ sich von einer Magd in ihr Kleid helfen. Die Wahl ihrer Garderobe verriet ihre gute Laune: Statt der grauen und schwarzen Kleider, die sie sonst trug, wenn kein Gast ihr Schloss beehrte, hatte sie sich für ein wunderschönes grünes Samtkleid entschieden, dessen Borten blutrot waren.
    »Was gibt es denn?«, fragte Ardhes.
    Königin Jale betrachtete ihre Tochter einen Moment mit einem nachdenklichen, fast zärtlichen Blick. »Mein Engel, ich habe soeben von einem Boten die beste Nachricht bekommen, die du dir vorstellen kannst: Haradon …«
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