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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder
Autoren: Reginald Hill
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Hardcastles. Fragen Sie die Telfords. Fragen Sie Chloe und Walter hier, die Sie all die Jahre wie die eigene Tochter großgezogen haben.«
    »Und sie war eine gute Tochter«, erklärte Chloe Wulfstan, die plötzlich aus ihrer Trance erwacht war. »Eine zweite Chance. Vielleicht mehr, als ich verdient habe. Kummer macht einen egoistisch … O Gott, wenn ich an den Kummer denke, den sie sich selbst angetan hat … Betsy, es tut mir leid, ich hab versucht, es wiedergutzumachen …«
    Sie ergriff Elizabeths Hand und sah die junge Frau flehentlich an, die jedoch nur die Stirn runzelte.
    Pascoe hüstelte leicht. Dalziel sah ihn beinahe erleichtert an und nickte. Sie arbeiteten schon lange genug zusammen, um gewisse Grenzen abzustecken. Mit Dalziels Worten: »Ich trete den Leuten in die Eier, und Sie lullen sie mit Ihrer Psychokacke ein.«
    Pascoe sagte: »Ich denke nicht, daß Sie sich allzuviel vorwerfen sollten, Mrs. Wulfstan. Sehen Sie, ich glaube nicht, daß Betsys Magersucht und diese Haargeschichte wirklich der Versuch waren, sich in Mary zu verwandeln. Und wenn, dann war das nicht Ihretwegen, oder zumindest nicht allein Ihretwegen. Nein. Sie tat es, um sich in die Art von Tochter zu verwandeln, die ihr eigener Vater bevorzugt hätte. Blond, schlank, attraktiv, anmutig. Alle dachten, die kurzgeschorenen Haare und jungenhaften Kleider seien als Ausgleich dafür gedacht, daß ihr Vater keinen Sohn bekommen hat. Aber das denke ich nicht, Elizabeth. Ich denke, Ihre Mutter hat ganz bewußt versucht, Sie so wenig mädchenhaft wie möglich zu machen. Sie für ihn unsichtbar zu machen. Aber Sie wollten von ihm gesehen werden. Sogar, als er schon tot war. Vielleicht dachten Sie, er wäre Ihretwegen gestorben. Weil Sie nicht das waren, was er wollte. Was uns zu der Frage bringt, woher Sie denn wußten, was er wollte. Woher Ihre Mutter das wußte … Tja, ich glaube, eine Ehefrau hat da einen Instinkt. Sie mag es verbergen und vertuschen, vielleicht auch vor sich selbst, aber sie weiß es. Und manchmal wird dieses Wissen unerträglich. Aber ein kleines Mädchen … Vielleicht hat Ihnen Ihre Unsichtbarkeit geholfen. Ich wette, Sie sind ihm häufig gefolgt … Ich wette, Sie konnten ihn bei guter Sicht auf eine halbe Meile Entfernung erkennen. Ein flüchtiger Blick zum Berg hinauf reichte aus. Ja, ich wette, so war es, Betsy. Ich wette, so war es.«
    Es funktionierte nicht. Er hatte es so in die Länge gezogen in der Hoffnung, ihre Fassade allmählich bröckeln zu sehen, doch im Gesicht der Frau entdeckte er nichts außer einem Stirnrunzeln. Die anderen zeigten dafür um so mehr, als ihnen die Bedeutung seiner Worte bewußt wurde. Wulfstan kehrte aus seiner Versunkenheit zurück, Krogs gekünstelte Miene verzog sich zu echter Überraschung. Sandel blickte erstaunt von der Klaviatur auf, und Chloes Griff um die Hand ihrer Tochter wurde immer verkrampfter.
    Sie sagte: »Betsy, bitte, was meint er damit? Was will er damit sagen?«
    »Kümmere dich nicht darum«, sagte Elizabeth harsch. »Er spricht in Rätseln. So reden diese Typen nun mal, wenn sie nix zu sagen haben.«
    »Betsy, wir können den Toten nichts mehr antun, wie schuldig sie auch sein mögen«, fuhr Pascoe fort. »Aber die Lebenden müssen reden. Denken Sie an all den Kummer, den Ihr Schweigen verursacht hat. Gut, einem verwirrten Kind kann man nicht vorwerfen, daß es geschwiegen hat, aber Sie taten mehr als nur schweigen, oder nicht? Sie legten eine falsche Fährte. Denken Sie an die Konsequenzen. Denken Sie an den armen Mann, der im Keller ertrinken mußte. Denken Sie an die kleine Lorraine. All das war die Folge Ihres Schweigens. Es muß ein Ende geben.«
    »Ja«, sagte sie und löste ihre Hand aus Chloes Umklammerung. »Für mich hat das jetzt ein Ende. Ich habe genug. Ich muß morgen sehr früh raus und brauche meinen Schlaf. Walter, es tut mir leid, wie alles gekommen ist, aber sie können dir für einen Unfall nicht viel anhängen. Chloe …«
    In einem letzten verzweifelten Versuch flehte Chloe: »Elizabeth, wenn du irgend etwas weißt, bitte, bitte, sag es uns.«
    »Was denn? Was soll ich wissen?« rief Elizabeth.
    »Wo sie ist. Wo meine Tochter ist! Sag es mir. Sag es mir!«
    Letzte Gelegenheit, dachte Pascoe. Aber zuzugeben, daß sie es wußte, würde bedeuten, daß sie alles zugeben müßte. Nicht zuletzt, daß sie das Leid ihrer Adoptiveltern um all die Jahre verlängert hatte. Würde sie dazu stark genug sein? Er sah, wie es sie innerlich
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