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Das doppelte Lottchen

Das doppelte Lottchen

Titel: Das doppelte Lottchen
Autoren: Erich Kästner
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frisches Taschengeld geschickt.
    Auf geht’s!«
    Sie spazieren also zur Försterei hinaus, setzen sich in den Garten, trinken Limonade und plaudern. Es gibt ja so viel zu erzählen, zu fragen und zu beantworten, wenn zwei kleine Mädchen erst einmal Freundinnen geworden sind!
    Die Hühner laufen pickend und gackernd zwischen den
    Gasthaustischen hin und her. Ein alter Jagdhund beschnuppert die beiden Gäste und ist mit ihrer Anwesenheit einverstanden.
    »Ist dein Vater schon lange tot?« fragt Luise.
    »Ich weiß es nicht«, sagt Lotte. »Mutti spricht niemals von ihm –
    und fragen möcht’ ich nicht gern.«
    Luise nickt. »Ich kann mich an meine Mutti gar nicht mehr
    erinnern. Früher stand auf Vaters Flügel ein großes Bild von ihr.
    Einmal kam er dazu, wie ich es mir ansah. Und am nächsten Tag war es fort. Er hat es wahrscheinlich im Schreibtisch eingeschlossen.«
    Die Hühner gackern. Der Jagdhund döst. Ein kleines Mädchen,
    das keinen Vater, und ein kleines Mädchen, das keine Mutter mehr hat, trinken Limonade.
    »Du bist doch auch neun Jahre alt?« fragt Luise.
    »Ja.« Lotte nickt. »Am 14. Oktober werde ich zehn.«
    Luise setzt sich kerzengerade. »Am 14. Oktober?«
    »Am 14. Oktober.«
    Luise beugt sich vor und flüstert: »Ich auch!«
    Lotte wird steif wie eine Puppe.
    Hinterm Haus kräht ein Hahn. Der Jagdhund schnappt nach einer
    Biene, die in seiner Nähe summt. Aus dem offenen Küchenfenster
    hört man die Förstersfrau singen.
    Die beiden Kinder schauen einander wie hypnotisiert in die
    Augen. Lotte schluckt schwer und fragt, heiser vor Aufregung: »Und
    – wo bist du geboren?«
    Luise erwidert leise und zögernd: »In Linz an der Donau!«
    Lotte fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich
    auch!«

    Es ist ganz still im Garten. Nur die Baumwipfel bewegen sich.
    Vielleicht hat das Schicksal, das eben über den Garten hin schwebte, sie mit seinen Flügeln gestreift?
    Lotte sagt langsam: »Ich habe ein Foto von… von meiner Mutti
    im Schrank.«

    »Aber…«
    »Kein Aber! Die Kinder ahnen nichts. Sie haben sich vorhin
    fotografieren lassen und werden die Bildchen heimschicken. Wenn sich die Fäden hierdurch entwirren, gut! Doch Sie und ich, wir
    wollen uns hüten, Schicksal zu spielen. Ich danke Ihnen für Ihre Einsicht, meine Liebe. Und jetzt schicken Sie mir, bitte, die
    Köchin.«
    Fräulein Ulrike macht kein sonderlich geistreiches Gesicht, als sie das Büro verläßt. Übrigens wäre das bei ihr auch etwas völlig Neues.

DRITTES KAPITEL
    Neue Kontinente werden entdeckt – Rätsel über Rätsel – Der entzweigeteilte Vorname – Eine ernste Fotografie und ein lustiger Brief – Steffies Eltern lassen sich scheiden – Darf man Kinder halbieren?

    Die Zeit vergeht. Sie weiß es nicht besser.
    Haben die zwei kleinen Mädchen ihre Fotos beim Herrn
    Eipeldauer im Dorf abgeholt? Längst! Hat sich Fräulein Ulrike
    neugierig erkundigt, ob sie die Fotos nach Hause geschickt hätten?
    Längst! Haben Luise und Lotte mit dem Kopf genickt und »ja«
    gesagt? Längst!
    Und ebensolang liegen dieselben Fotos, in lauter kleine Fetzen
    zerpflückt, auf dem Grunde des flaschengrünen Bühlsees bei
    Seebühl. Die Kinder haben Fräulein Ulrike angelogen! Sie wollen ihr Geheimnis für sich behalten! Wollen es zu zweit verbergen und,
    vielleicht, zu zweit enthüllen! Und wer ihren Heimlichkeiten zu nahe kommt, wird rücksichtslos beschwindelt. Es geht nicht anders. Nicht einmal Lottchen hat Gewissensbisse. Das will viel heißen.
    Die beiden hängen neuerdings wie die Kletten zusammen. Trude,
    Steffie, Monika, Christine und die anderen sind manchmal böse auf Luise, eifersüchtig auf Lotte. Was hilft’s? Gar nichts hilft es! Wo mögen sie jetzt wieder stecken?
    Sie stecken im Schrankzimmer. Lotte holt zwei gleiche Schürzen
    aus ihrem Schrank, gibt der Schwester eine davon und sagt, während sie sich die andere umbindet: »Die Schürzen hat Mutti beim
    Oberpollinger gekauft.«
    »Aha«, meint Luise, »das ist das Kaufhaus in der
    Neuhauserstraße, beim… wie heißt das Tor?«
    »Karlstor!«
    »Richtig, beim Karlstor!«
    Sie wissen wechselweise schon recht gut Bescheid über die
    Lebensgewohnheiten, über die Schulkameradinnen, die Nachbarn,
    die Lehrerinnen und Wohnungen der anderen! Für Luise ist ja alles, was mit der Mutter zusammenhängt, so ungeheuer wichtig! Und
    Lotte verzehrt sich, alles, aber auch alles über den Vater zu erfahren, was die Schwester weiß! Tag für Tag sprechen sie
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