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Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)

Titel: Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Autoren: Christian Nürnberger
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vorliegt, ist Menschenwort, gesprochen und geschrieben in mythischer Sprache aus Anlässen, die längst vergangen sind, für Menschen, die längst verstorben sind und deren Bild von der Welt längst überholt ist. Es sind Worte aus versunkener Zeit, die wir zwischen den zwei Buchdeckeln der Bibel aufbewahren. Die innere Wahrheit dieser Texte zu erschließen, ist schwierig und wird vermutlich niemals so apodiktisch verbindlich für alle zu klären sein, wie es der Papst gern hätte.
    Die Menschen, für die diese Texte ursprünglich bestimmt waren, sahen sich schicksalhaften Mächten ausgesetzt, die sie mit Göttern identifizierten. Geister, Dämonen, Tiergötter, die Anwesenheit der Ahnen, heilige Orte, mirakulöse Eingriffe aus einer jenseitigen Welt in die diesseitige, das alles war für die damals Lebenden eine selbstverständliche Realität. Sie, nicht wir Menschen des 21. Jahrhunderts, waren die eigentlichen Adressaten der biblischen Texte.
    Daher kann eine neue Antwort auf die alte Frage nach der Wahrheit des Christentums heute vorerst nur in einen Minimalkonsens münden. Jene christliche Essenz, von der im vorangegangenen Abschnitt die Rede war – darauf müsste sich die Christenheit doch einigen können.
    Das mag manchen als zu gering erscheinen, aber unendlich viel wäre gewonnen, wenn alle Kirchen und alle Christen gemeinsam und ernsthaft versuchten, jene unstrittigen christlichen Minimalforderungen – Glaube, Umkehr, Buße, Reich Gottes, Leib Christi, die klassenlose Gesellschaft, es darf keine Armen geben – endlich mit Leben zu erfüllen. Es wäre geradezu revolutionär, wenn dies geschähe.
    Und wenn es geschähe, bestünde die begründete Hoffnung, dass es bei diesem theologischen Minimalismus nicht bleiben müsste, dass man Erfahrungen machte, welche die Erkenntnis der christlichen Wahrheit erweiterten, gemäß dem Schriftwort: Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zum Licht . (Johannes 3, 21)
    Taten wären daher heute vermutlich wichtiger als Predigten, Lehren, Beichten, Wallfahrten, Gottesdienstfeiern, das Streiten um die reine Lehre und die Produktion von Papierbergen. Der weltanschauliche Pluralismus, den Ratzinger als Relativismus beklagt und den er überwinden möchte – obwohl auch er nicht weiß, wie –, ist durch schriftgelehrte Disputationen nicht aus der Welt zu schaffen, auch innerhalb der Kirchen nicht, nicht einmal mehr innerhalb der katholischen Kirche.
    In allen Kirchen, und erst recht außerhalb, passiert tatsächlich etwas Unheimliches, das Ratzinger wie folgt beschreibt:

So liegt es auch von daher nahe, den christlichen Inhalten keine höhere Wahrheit zuzusprechen als den Mythen der Religionsgeschichte – sie als Weise der religiösen Erfahrung anzusehen, die sich demütig neben andere zu stellen hätte. In diesem Sinn kann man dann – wie es scheint – fortfahren, ein Christ zu bleiben; man bedient sich weiterhin der Ausdrucksformen des Christentums, deren Anspruch freilich von Grund auf verändert ist: Was als Wahrheit verpflichtende Kraft und verlässliche Verheißung für den Menschen gewesen war, wird nun zu einer kulturellen Ausdrucksform des allgemeinen religiösen Empfindens, die uns durch die Zufälle unserer europäischen Herkunft nahe gelegt ist.  30

    Hier erst formuliert Ratzinger die Krise des Christentums in ihrer ganzen Schärfe, denn das bedeutet: Wenn mein Christentum nur die zufällig historisch gewachsene Gestalt eines allgemeinen religiösen Empfindens ist, dann ist es nicht mehr besonders sinnvoll, an diesen Zufällen festzuhalten und sie weiter zu pflegen. Es erscheint dann vernünftiger, sich vom trennenden Ballast der bloß zufälligen christlichen Spezifika zu befreien und sich auf jene kulturunabhängigen Inhalte zu konzentrieren, die allen Religionen gemein sind. Mit anderen Worten: Dann kann man das Christsein auch bleiben lassen.
    Auch das Religiössein kann man dann bleiben lassen. Es spricht zwar prinzipiell nichts dagegen, weiterhin in irgendeiner Form religiös beheimatet bleiben zu wollen, das ist reine Privatsache. Aber wer begehrt, damit trotzdem intellektuell ernst genommen zu werden, muss seine religiöse Heimat auf dem geistigen Stand der Zeit halten, und das heißt: Man kann, wenn überhaupt, nur noch auf aufgeklärte Weise religiös sein. Aber eben diese aufgeklärte Religiosität hat mit der ursprünglichen nichts mehr gemein, weder in der christlichen Variante noch in der jüdischen, buddhistischen oder jeder anderen, da hat
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