Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Böse unter der Sonne

Das Böse unter der Sonne

Titel: Das Böse unter der Sonne
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
besaß noch kein Gefühl für die richtigen Proportionen. Ein Jahr erschien ihr wie eine Ewigkeit.
    Eine dunkle heiße Welle von Hass auf Arlena stieg in ihr auf. Ich wünschte, sie wäre tot, dachte sie. Ihr Blick wanderte vom Spiegel zum Fenster.
    Eigentlich war es hier ganz nett, jedenfalls hätte es nett sein können. Die vielen Strände und Buchten und komischen kleinen Wege. Es gab so viel zu entdecken, so viele Möglichkeiten, sich herumzutreiben. Die Cowan-Jungen hatten sogar erzählt, dass es Höhlen gab.
    Wenn Arlena nicht da wäre, würde es mir hier bestimmt gefallen, dachte Linda.
    Sie erinnerte sich an den Abend ihrer Ankunft. Es war alles sehr aufregend gewesen. Die Flut hatte den Damm überschwemmt, sie mussten ein Boot nehmen. Das Hotel hatte so ungewöhnlich gewirkt, so unheimlich. Als sie die Terrasse betraten, sprang eine große dunkelhaarige Frau auf und rief: «Aber das ist ja Kenneth!»
    Ihr Vater schien schrecklich überrascht gewesen zu sein. «Rosamund!», hatte er nur gesagt.
    Linda überlegte ernsthaft, was sie von Rosamund Darnley hielt.
    Sie beschloss, dass ihr Rosamund gefiel. Rosamund, überlegte sie, war eine vernünftige Person. Und ihr Haar war so schön. Es passte genau zu ihr. Die meisten Leute hatten hässliche Haare. Und sie trug immer so hübsche Kleider. Und sie hatte ein fröhliches Gesicht, als machte sie sich über sich selbst lustig und nie über andere. Rosamund war nett zu ihr gewesen. Sie hatte sie nicht totgeredet oder dummes Zeug gesagt. Unter «dummes Zeug sagen», verstand Linda eine Menge von Dingen, die ihr aus irgendeinem Grund nicht gefielen. Und Rosamund hatte nicht ausgesehen, als fände sie Linda blöd. Vielmehr hatte sie Linda behandelt, als sei sie ein richtiges menschliches Wesen. Linda hatte so selten das Gefühl, ein richtiges menschliches Wesen zu sein, dass sie tief dankbar war, wenn irgendjemand sie dafür zu halten schien.
    Offenbar hatte sich ihr Vater auch gefreut, Miss Darnley wiederzusehen.
    Komisch – er hatte plötzlich ganz anders ausgesehen. Er hatte ausgesehen wie… Linda überlegte angestrengt. Er hatte so jung ausgesehen. Ja, das war es! Er hatte gelacht – ein seltsames jungenhaftes Lachen. Sie hatte ihn sehr selten auf diese Art lachen gehört.
    Sie war beunruhigt. Sie sah ihren Vater in einem ganz anderen Licht. Wie er wohl in meinem Alter war, dachte sie. Aber sich das vorzustellen, war ihr zu schwierig. Sie gab es auf.
    Ein Gedanke durchzuckte sie. Wie lustig es gewesen wäre, wenn sie und ihr Vater Miss Darnley allein getroffen hätten – ohne Arlena.
    Einen Augenblick sah sie die Szene vor sich. Wie ihr Vater jungenhaft lachte… Miss Darnley und sie… Was für Spaß sie auf der Insel haben würden… Sie könnten zusammen schwimmen und die Höhlen erforschen…
    Das Bild verdunkelte sich. Man konnte das Leben nicht genießen, solange Arlena da war. Warum nicht? Jedenfalls sie, Linda, konnte es nicht. Man konnte nicht glücklich sein zusammen mit einer Person, die man hasste. Ja, hasste! Sie hasste Arlena.
     
    Kenneth Marshall klopfte an die Zimmertür seiner Frau. Als Arlena «Herein!», rief, öffnete er die Tür und trat ein.
    Arlena war fast fertig. Sie trug ein glänzendes grünes Kleid und sah fast wie eine Seejungfrau aus. Sie stand vor einem Spiegel und legte Lidschatten auf.
    «Ach, du bist es, Kenneth», sagte sie.
    «Ja. Ich wollte fragen, ob du fertig bist.»
    «Noch einen Augenblick.»
    Kenneth Marshall trat ans Fenster und blickte aufs Meer hinaus. Sein Gesicht war wie gewöhnlich völlig ausdruckslos. Es war freundlich und durchschnittlich. Plötzlich drehte er sich um und fragte: «Du hast Redfern schon früher mal getroffen, Arlena?»
    «Ja, mein Lieber. Bei irgendeiner Cocktailparty. Ich fand ihn ganz nett.»
    «Wusstest du, dass er und seine Frau herkommen würden?»
    Arlena machte große Augen. «Nein, natürlich nicht. Es hat mich völlig überrascht.»
    «Ich dachte», antwortete Kenneth Marshall, «dass du deshalb gern hierherfahren wolltest. Du warst sehr scharf darauf, hier die Ferien zu verbringen.»
    Arlena legte den Pinsel hin und lächelte – ein sanftes, verführerisches Lächeln. «Irgendjemand hat mir von diesem Hotel erzählt. Ich glaube, es waren die Rylands. Sie sagten, es sei fast zu schön, um wahr zu sein – so unberührt. Gefällt es dir nicht?»
    «Ich bin mir nicht sicher.»
    «Ach, mein Lieber, du schwimmst doch gern und liegst gern in der Sonne. Ich bin überzeugt, dass du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher