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Das Blut von Magenza

Das Blut von Magenza

Titel: Das Blut von Magenza
Autoren: Claudia Platz
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Hilfeschreie drangen durch die dicken Wände zu ihm herunter. Er hörte die herrischen Stimmen der bewaffneten Wallfahrer, die behaupteten, Pilger zu sein, in Jonahs Augen aber kaltherzige Krieger ihres Christengottes waren. Wütend forderten sie von seinen Brüdern die Taufe.
    Auf den Lärm folgte schließlich langanhaltende Stille, die ihn schier um den Verstand brachte. Endlich öffnete sich die Kellerluke und das Gesicht seines Christenfreundes Thomas erschien. Er kam, um ihn aus seinem Versteck zu holen. Als er ins Freie trat, musste er die Lider zusammenpressen, da das Licht schmerzte. Süßlicher Verwesungsgeruch waberte durch die Gassen von Rouen, fand Einlass durch seine vor Furcht geweiteten Nasenlöcher und setzte sich in seinem Gehirn fest, wo er sich für die Ewigkeit einbrannte. Selbst die wohlduftendste Blume würde ihn niemals vergessen machen können. Nachdem der erste Schreck überwunden war, lief er bis zum Stadtkern, wo sich das ganze Ausmaß des Schreckens offenbarte.
    Dort lagen die Toten auf den Leichentüchern ihres getrockneten Blutes. Ihr Anblick entsetzte ihn so, dass er über sie hinwegstarrte, um keine Einzelheiten wahrnehmen zu müssen. Dennoch spürte er ihre leblosen Augen, die auf ihm ruhten und zu fragen schienen, warum er entkommen war, während sie diesen schmachvollen Tod starben. Um sie herum hatten sich die Überlebenden versammelt und in ihrer Trauer ihre Kleidung zerrissen. Sie stimmten die Totenklage an und ihr Gesang entriss ihn endlich seinem Alptraum.
    Mit einem Schrei erwachte er und setzte sich auf. Sein Mund war staubtrocken und die Kehle wie zugeschnürt, sein Herz schlug bis zum Hals und sein Atem ging keuchend. Erleichtert stellte er fest, dass er sich in Sicherheit befand, in seinem eigenen Bett lag und sich nicht mehr im dunklen Keller von Thomas verbarg. Auf dem Tisch neben ihm brannte eine kleine Lampe, ohne die er seit diesem Erlebnis nicht mehr auskam. Er brauchte das Licht, um die Dunkelheit zu ertragen. Nur so ließen sich seine Dämonenauf Abstand halten.
    Seit dem Überfall war die Angst seine ständige Begleiterin. Er fühlte sich einer drohenden Gefahr ausgesetzt, die ohne Vorwarnung jederzeit wieder zuschlagen konnte. Er ertappte sich dabei, dass er sich umschaute, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde.
    Waren die Tage kaum zu ertragen, entfalteten die Nächte ihren Schrecken. Sobald er die Augen schloss, kamen die Bilder. Sie machten seine Träume zu einem grausigen Schauspiel, das ihm keine Ruhe gönnte. Er sah Geister, die nicht existierten, ihn aber dennoch bedrängten. Auch wenn das Grauen mit den Kreuzfahrern abgezogen war, hatte es unauslöschliche Spuren hinterlassen.
    Endlich beruhigte er sich und sank erschöpft in die Kissen. Übermorgen, sobald die Sonne aufging und der Sabbat vorüber war, würde er eine lange Reise antreten. Auch wenn die Furcht nicht von seiner Seite wich, ging er dieses Wagnis ein, denn die Gemeinde hatte ihn ausgewählt.
    Der Vorsteher hatte ihm unmissverständlich klargemacht, wie wichtig sein Auftrag war. „Du musst unbedingt nach Magenza und Rabbi Kalonymos ben Meschullam, dem Parnass, dieses Schreiben übergeben. Dein Weg wird lang und beschwerlich werden. Aber im Vertrauen auf unseren Schöpfer sind wir voller Hoffnung, dass du es schaffen wirst. Damit du dein Ziel erreichst, musst du dich als Christ tarnen. Scher deinen Bart und verhalte dich wie einer der Ihren, solange du in ihrer Gesellschaft bist. Dazu erteilt dir unsere Gemeinde ihren Segen.“
    Jonah war nicht glücklich gewesen, dass die Wahl ausgerechnet auf ihn fiel. Seit dieser Kreuzzug ausgerufen worden war, hatten es die Juden in Frankreich noch schwerer als sonst. Innerhalb ihrer angestammten Gemeinden lebtensie einigermaßen sicher, aber außerhalb waren sie der Willkür der Landesherrn ausgeliefert. Auch er würde das während seiner Reise zu spüren bekommen, wenn er nicht aufpasste. Deshalb musste er Routen nehmen, die abseits der bekannten Wege lagen, und versuchen, möglichst unbemerkt über die Grenzen zu gelangen. Er fürchtete sich vor dem langen, einsamen Ritt, bei dem ihn nur sein Pferd und sein Hund begleiten würden und wo an allen Ecken und Enden seine Dämonen lauerten.
    Aber er konnte sich nicht dem Willen der Ältesten widersetzen und egal wie groß seine Angst auch war, er musste sie überwinden. Das war er den Toten von Rouen schuldig.

Freitag, 14. Dezember 1095, 15. Tewet 4856
    Mainz
    Die Sonne war noch nicht
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