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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
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Länder, Flüsse, Inseln, Halbinseln oder Landzungen, Seen, Kaps, Gebirgszüge und einzelne Berge, Wasserfälle, Buchten, Meerengen, Schiffe, Häfen, Lokomotiven, Bahnhöfe, Schulen, Schächte, Schmetterlinge, Straßen zu Land und zu Wasser, einen Militärorden, eine Moralauffassung, ein Seerosengewächs und ein Zeitalter.
    Nach ihr benannte man gar nichts: Zinat Mahal Begum, Prinzessin von Oudh, rechtmäßige Ehefrau und Erbin des letzten Mogulkaisers und Königs von Delhi Abu Zafar Bahadur Sha II. Selbst ihr Titel hatte keine Bedeutung mehr. Die Briten nannten praktisch jede einigermaßen wohlhabende Dame, die einer Familie und einem Haushalt vorstand, eine Begum ; sie schienen es als Witz zu betrachten oder als eine besondere Form der Höflichkeit oder einfach als ein Synonym für: alte Frau.
    Zinat Mahal Begum war vier Jahre älter als Viktoria von England, aber seit sie ihre jeweilige Herrschaft im gleichen Jahr – 1837 – angetreten hatten, hatte sie, Kaiserin von Indien, Fürstin von Delhi, Prinzessin von Oudh, sich immer wieder mit der englischen Königin verglichen. Sie besaß verschiedene Bilder von ihr, Gemälde und fotografische Aufnahmen. Demnach war sie immer schöner gewesen und auch jetzt, mit fünfzig Jahren, noch schöner als die kleine dicke Engländerin, die man sich in einem Sari nicht einmal vorstellen mochte.
    Aber noch als sie jung war, gerade Ehefrau und Mutter des Thronerben geworden, hatte Zinat Mahal Begum sich im Roten Fort ein englisches Zimmer einrichten lassen, in das sie oft ging, wenn sie nachdenken wollte, und das außer ihr und einigen ihrer Dienerinnen niemand betreten durfte. Das geheime Zimmer war eigentlich ein Albtraum für jeden Inder, Asiaten oder Orientalen, wäre aber auch für so manchen Amerikaner und vielleicht sogar für den einen oder anderen Engländer nur schwer erträglich gewesen.
    Vollgestopft mit Gebilden aus dunklem Holz, brokatüberzogenen Polstermöbeln in jeder Größe, Sesseln, Poufs, Fußschemeln und Stühlen mit gedrechselten Beinen, auf deren Sprungfederung man sich nicht gefahrlos bewegen konnte. Verdunkelt durch Vorhänge und irrsinnige Draperien, gedämpft durch dicke, maschinengewebte Teppiche und Stofftapeten mit geschmacklosen Mustern, verkleinert durch ein Monstrum von Kamin, das man in Indien natürlich niemals brauchte. Man konnte darin keine drei Schritte machen, ohne an irgendetwas anzustoßen.
    Anfangs hatte die junge Begum sich noch einen Spaß daraus gemacht, im englischen Zimmer auch europäische Kleidung zu tragen: Schnürstiefel, Krinolinen, gefältelte Häubchen, einmal sogar einen Schirm. Dabei war aber ein guter Teil der Einrichtung zu Bruch gegangen, hatte sie Kerzenständer, Blumenvasen, das Teeservice und ein Stehpult umgerissen und inmitten der Zerstörung nur noch gelacht, als sie feststellte, dass auch die Bronzestatuen, geflügelte Kinder ohne Geschlechtsteile, Löwen, Pferde und nackten Engländerinnen, die sie nacheinander gegen die Wand warf, nur aus Gips waren – mit einem leichten Metallüberzug.
    War das Maya, der Weltentrug? Oder war es nur eine der tausend Albernheiten, mit denen die Engländer Geld verdienten? Und wie war es möglich, dass dieses Volk, das sich in seinen eigenen Wohnzimmern nicht umdrehen konnte, Indien und die ganze Welt beherrschte? Lag es daran, am Geld? Oder daran, dass sie keinen Geschmack hatten, um es für etwas anderes auszugeben als ihre furchterregenden Waffen?
    Die Begum ließ sich englische Bücher kommen und Bilder, Öldrucke englischer Landschaften. Sie richtete im geheimen Zimmer eine Bibliothek ein, deren Bücher sie zwar nicht las, aber immer wieder betrachten konnte. Sie mochte die Illustrationen von Cruishank und Thackeray, die sie zum Lachen brachten. Sie grübelte über englischen Figurengedichten des 17. Jahrhunderts, wie die Gelehrten von Belait 1 über indischen Tempelreliefs grübelten, die sie klassifizierten, ohne sie im Mindesten zu verstehen. Lag es daran, an ihren Büchern? Klassifizierungen?
    Dann, spät, entdeckte sie das Einzige, was ihr – abgesehen von der schier endlosen Macht ihrer Waffen – an Viktorias Herrschaft über die Welt, über England und seine Fabriken, wirklich wertvoll und wunderbar erschien: einen Schaukelstuhl. Seine Lehnen und Kufen waren aus schmalen, aber sehr starken Messingbändern, mit vergoldeten Einlagen, beides war wundervoll kühl. Armlehnen, Rücken- und Sitzfläche waren weich, aber nicht zu weich gepolstert und mit rotem Plüsch
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